Ungekürzter Beitrag aus Forschung & Lehre 12/25, S. 55
Die literarische Welt drehte sich im ablaufenden Jahr um Thomas Mann. Am 6. Juni konnten wir seines 150. Geburtstags und am 12. August seines 70. Todestags gedenken. Viele Neuerscheinungen der Verlage luden ein, uns erneut mit seinem Werk zu befassen, in dem die großen Themen der menschlichen Existenz behandelt werden; denn der Zauberer, wie ihn seine Kinder nannten, führt uns die Freuden und Leiden seiner Figuren in dem Zwischenbereich von Ewigkeitsversprechen und unausweichlicher Zeitbedingtheit, von Tragik und Komik, von Liebe, Leben, Krankheit und Tod, der Vergänglichkeit des Einzelnen und dem Überdauern von Religion, Kunst und Musik (so in Doktor Faustus, 1947) vor Augen.
Das Vermächtnis des Literaturnobelpreisträgers von 1919 kommt uns in diesem Jahr besonders nahe: Es geht darin durchweg um Schilderungen der Vorboten eines gravierenden Wandels der Lebensverhältnisse, ja sogar eines weltweiten Epochenbruchs; auch wir Heutigen können in unserer Gegenwart solche bedrohlichen Hinweise erkennen. In den „Buddenbrooks“ (1901) steht die sich über mehrere Generationen abzeichnende Erosion der bürgerlich-sittlichen Lebensform einer Familie innerhalb der Lübecker Stadtgesellschaft im Mittelpunkt; in „Der Tod in Venedig“ (1911) wird der schöne Schein der Normalität politisch oktroyiert aufrechterhalten, um die grassierende Cholera in der Lagunenstadt zu verleugnen. Aschenbach, der alternde liebessüchtige Schriftsteller, verdrängt die Symptome der zunehmenden „Entsittlichung“ vor Ort und einer „nicht zu hemmende(n) Neigung der Welt, sich ins Sonderbare und Fratzenhafte zu entstellen“ und muss dafür bezahlen, zunächst mit dem Verlust seiner Würde und dann mit seinem Leben; in „Unordnung und frühes Leid“ (1925) bestimmen die Anzeichen eines rapiden Werte-, Autoritäts- und Ordnungswandels mit ungewissem Ausgang den Alltag einer Münchner Familie und ihrer Kreise, die den Vater und Geschichtsprofessor ironisch und zugleich besorgt, gelegentlich zuversichtlich, dann wieder resignativ zum Nachdenken bringen, wobei die Irritationen des Autors an seinem krisengeschüttelten Wohnort während der Weimarer Republik einfließen; schon bald, in „Mario und der Zauberer“ (1930), beschreibt Thomas Mann, wie sich in einem italienischen Urlaubsort der Faschismus mit Mitteln der Entmündigung der Menschen durch Massensuggestion verbreitet.






