„Raus aus der Blase, ran an die Basis“

Expertin kritisiert die Politik: „Im Bundestag fehlen Pragmatiker“
Von: Clemens Dörrenberg

Der Bundestag agiert abgehoben und fern der Lebensrealität, kritisiert die Soziologin Christiane Bender – und hat eine Idee, wie es besser gehen könnte.

Im Deutschen Bundestag sitzen 20 Abgeordnete mit Hauptschulabschluss. Dagegen leben in der Bundesrepublik mehr als 20 Millionen Menschen, die ebenfalls über einen Hauptschulabschluss verfügen. Das sind quasi ein Drittel der Wahlberechtigten. Die Soziologin Christiane Bender spricht im Interview über dieses Ungleichgewicht in Deutschlands höchstem Parlament, über eine verlorengegangene Verankerung der Politik in der Gesellschaft und damit verbundene Gefahren für die Demokratie. Einen Vorschlag, um dieses Problem zu beheben, hat sie auch.

Frau Bender, Sie sprechen von einer „Repräsentationslücke“ bei den nur 20 Abgeordneten mit Hauptschulabschluss im Bundestag. Was bedeutet diese Lücke für unsere Demokratie?

Die Abgeordneten im Bundestag haben nach dem Grundgesetz den Auftrag, das ganze Volk zu vertreten. Wenn Politik hauptsächlich von Politikern betrieben wird, die einer ziemlich homogenen, noch dazu privilegierten Schicht angehören, ist die Gefahr sehr groß, dass die Politik stark auf deren Interessen ausgerichtet ist.

Warum?

Aus dem einfachen Grund, weil – in bester Absicht – Menschen dazu neigen, ihre eigenen Erfahrungen zu verallgemeinern. Die Lebenslagen des größten Teils der Wähler und Wählerinnen sind aber dadurch gekennzeichnet, dass sie die Auswirkung des sozialen Wandels unmittelbar spüren: Unternehmen schließen, Mieten steigen, die Lebenshaltung und Energie wird teurer. Diese Bürgerinnen und Bürger verfügen aber kaum über Abgeordnete, die sie aus eigener Erfahrung vertreten können.

Wie äußert sich das?

Die Abgeordneten sprechen nicht deren Sprache, so dass sich diese Wähler und Wählerinnen nicht repräsentiert fühlen. Gerade Menschen mit nicht-akademischen Laufbahnen sind am ehesten von sozialen Verwerfungen betroffen und in hohem Maße vom Gelingen der Politik, etwa von sozialstaatlichen Reformen, abhängig, denn ihnen fehlt das „Polster“, um Krisen zu überstehen.

Weshalb macht es einen so großen Unterschied, wer im Parlament sitzt und entscheidet?

Trotz der großen Zahl von Abgeordneten im Bundestag, die in ihren Wahlkreisen in den „Bürger-Dialog“ treten, gelingt es „der politischen Klasse“ derzeit kaum, ihre Politik Bevölkerungsgruppen außerhalb der akademischen Großstadtmilieus nahezubringen. Im Bundestag fehlen Pragmatiker, die über basisnahe Kenntnisse der Umsetzung von Politik verfügen und auf die vorhandenen Gefühle der Ungewissheit vieler Menschen an der gesellschaftlichen Basis eine befriedigende Antwort geben.

Die meisten der 736 Bundestagsabgeordneten haben studiert, auffallend viele sind Juristinnen oder Juristen.

Wir wollen keine Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielen. Wünschenswert ist ja eine breite Repräsentation von Fähigkeiten aus der gesamten Bevölkerung, die wiederum der Mehrheit der Bevölkerung zugutekommt. Und selbstverständlich werden in rechtsstaatlich verfassten Organen wie dem Bundestag und der Regierung Zuständigkeiten für juristische Fragen benötigt.

Aber nicht nur.

Bedenkenswert ist, dass Abgeordnete mit Jurastudium – um es vorsichtig auszudrücken – auch ihren gewaltigen Anteil daran haben, unsere Gesellschaft in ein bürokratisches Monstrum zu verwandeln und unnötig Komplexität aufzutürmen, die nur sie durchschauen können. So etwas nennt man Herrschaftswissen, um andere Menschen mit anderen Fähigkeiten zu diskriminieren. Früher siedelten sich Unternehmen in Deutschland an, weil ihnen der rechtliche Rahmen Verlässlichkeit bot, heute bleiben sie wegen der unüberschaubaren Bürokratie weg.

Welche Folgen hat eine einseitige Repräsentation unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen noch?

Wenn ein großer Teil der Bevölkerung kaum berücksichtigt wird, wendet er sich von der Politik ab. Bei der letzten Bundestagswahl stellten die Nicht-Wähler die größte „Partei“. Die Folgen sind Vertrauensverlust in die Politik, möglicherweise dann in die Institutionen und schließlich in die Demokratie, in der sie zu wenig vorkommen. Ich brauche an dieser Stelle nicht auszuführen, dass Parteien und Personen mit einem Gegenentwurf zur Demokratie schon bereitstehen, im Namen der Enttäuschten zu sprechen.

Sie sprechen von der AfD. Wer kann die denn stoppen?

Die anderen Parteien. Politik setzt sich aus Personen, Parteien und Programmen zusammen.

Welche konkret?

Die bürgerlichen Parteien. Insbesondere die beiden Volksparteien weisen in Deutschland eine stolze Geschichte auf, die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu vertreten. Ihre Politiker haben für die Bevölkerung glaubhaft und verständlich ihre Politik verkörpert. Das gelingt ihnen derzeit kaum noch, die mächtigen parteiinternen Netzwerke scheinen wenig am Gesamtwohl von Partei und Land interessiert zu sein.

Christiane Bender hatte bis 2019 eine Professur für Soziologie an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg inne, davor am Institut für Soziologie der Universität Heidelberg. Ihre Themenfelder sind vergleichende Analysen des sozialen Wandels sowie der ideen- und institutionen- geschichtlichen Grundlagen in der Tradition Max Webers. cd hse © hse

Sie hoffen also weder auf die SPD noch auf die CDU.

Die jüngere Partei Bündnis 90/Die Grünen kann eine große Bereicherung sein, wenn es ihr gelingt, zu überzeugen, dass sie nicht nur eine Akademiker-Partei ist, sondern dass sie auch die Interessen breiter Bevölkerungsschichten vertreten kann und die ökologische Transformation mit der nötigen Offenheit vorantreibt und nicht Top Down.

Und wie können die das Problem angehen?

Leicht wird das nicht. Aber es ist fünf vor zwölf. Raus aus der Blase, ran an die Basis. Leider sind die Beziehungen der Parteien zu den ehemaligen Großorganisationen wie Gewerkschaften, Kirchen, Berufsverbänden und Vereinen geschwunden.

Woran mangelt es?

Zeit für ehrenamtliche Tätigkeiten scheinen die Parteikarrieren nicht mehr zuzulassen. Medienpräsenz konkurriert mit Präsenz in der Region, im ländlichen Raum, bei Stadtfesten, im Ortsverein. Also: Mehr Angebote machen, interessante Mitgliederwerbung, Berührungsängste überwinden.

Was läuft derzeit schief?

Zurzeit gefallen die Parteien sich mit immer neuen selbstgefälligen Abgrenzungsstrategien gegen die AfD und treiben damit die Wähler der Partei in die Arme. Die Bedürfnisse und Interessen der Bevölkerung in transparente und bürgernahe Politik umsetzen, das hilft am meisten.

Um Lücken im Bundestag zu schließen, haben Sie mit Ihrem Kollegen Hans Graßl ein Losverfahren vorgeschlagen.

Die Beobachtung der Zunahme von Nichtwählern, oftmals in den Wohngebieten mit einkommensschwächerer Bevölkerung, bot den Anlass für unseren Vorschlag.

Was steckt dahinter?

Wir vermuten, die Wahlbeteiligung wird steigen und der Bundestag erhielte wieder die Aufmerksamkeit durch die Aktivitäten und Reden der ausgelosten Abgeordneten, die er in einer lebendigen Demokratie als zentrales gesetzgebendes Organ benötigt.

Eine Art Losverfahren hat auch der Bundestag zuletzt mit dem Konzept des Bürgerrates initiiert. Für den Rat wurden 160 Bürgerinnen und Bürger ausgelost, die sich von Ende September an treffen und in kleineren Gruppen beraten werden. Die Ergebnisse sollen in die Arbeit des Bundestags einfließen.

Mein Problem damit ist, dass dadurch ein neues Beratungsgremium geschaffen wurde. Es geht aber darum, dass die bestehenden Institutionen unserer Demokratie gestärkt werden. Wir haben in einem föderalen System schon sehr viele Strukturen, die Mitwirkung erforderlich machen. Nebengleise, von Abgeordneten im Bundestag eingerichtet, mit thematischen Vorgaben und intransparenten Kriterien der Auswahl sowie der Steuerung verwirren nur. Das Ziel muss sein, dass der Bundestag selbst an Repräsentativität gewinnt.

Das Konzept des Bürgerrats kommt Ihrer Idee also nicht nahe.

Ganz und gar nicht. Beratungsgremien gibt es doch schon genug. Uns geht es darum, andere Stimmen im Bundestag zu hören. Es ist derzeit auch nicht in Ordnung, dass die Stimmen für Parteien, die unter die Fünf-Prozent-Klausel fallen, den Parteien, die es darüber geschafft haben, zugerechnet werden. Unser Vorschlag zielt darauf, dass dafür die Positionen der Losabgeordneten geschaffen werden. Bis auf das im Bundestag geltende Abstimmungsverbot für nicht gewählte Abgeordnete hätten sie alle Privilegien.

Welche Privilegien meinen Sie?

Wir haben uns bei den Losabgeordneten an den früheren „Berliner Abgeordneten“ im Bundestag orientiert, die auch nicht gewählt wurden. Sie besaßen lediglich kein Abstimmungsrecht, sonst aber die gleichen Privilegien wie gewählte Abgeordnete: gleiches Recht Reden zu halten, in den Ausschüssen mitzuwirken, sogar deren Vorsitz zu übernehmen, Gesetzesvorlagen ins Parlament einzubringen.

… abgesehen vom Stimmrecht, als vollwertige Abgeordnete.

Ja, sie erhalten eine ansehnliche Amtsausstattung, Sachleistungen, Reisekostenerstattung, freie Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Mittel für die Einstellung von Mitarbeitern zur Erarbeitung der Politikfelder, eine sehr auskömmliche Abgeordnetenvergütung, Zuschuss zur Krankenversicherung, Pensionsansprüche und Übergangsgeld schon nach einem Jahr im Parlament. Zudem würden die Losabgeordneten besonders von ihrer Reputation profitieren.

Warum wäre das ein Gewinn?

Diese Abgeordneten – verfassungsrechtlich überprüft und nicht gezwungen – machen das Parlament attraktiver, tragen dazu bei, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Machtzentrum zu lenken, wo der politische Wille sich bildet und bestimmt. Das würde die Institution meines Erachtens aufwerten.

Interview: Clemens Dörrenberg


Das Interview von Clemens Dörrenberg mit Christiane Bender in voller Länge als PDF. Vielen Dank an die Frankfurter Rundschau


Per Los ins Parlament

Fünf Prozent der Abgeordneten des Bundestages sollen per Los ermittelt werden. Sie hätten die gleichen Rechte wie die gewählten Abgeordneten – außer dem, mit abzustimmen: Das sind die Kernpunkte des moderaten Losverfahrens, das Christiane Bender zusammen mit dem Soziologen Hans Graßl von der Universität Siegen vorgeschlagen hat. Das Parlament werde so gestärkt und attraktiver für die breite Bevölkerung, argumentieren sie.

Als Vorbild dienen Bender und Graßl die „Berliner Abgeordneten“. Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg, während des Viermächte-Status von 1949 bis 1990, vom Berliner Abgeordnetenhaus in den Bundestag entsandt, da es damals in Berlin keine Bundestagswahlen gab. cd

Autor: bender

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