Lesung aus meinem neuen Roman »Miquelallee«

Lesung im Literaturhaus Kiel aus dem neuen Roman "Miquelallee 1979" – Christiane Bender

In dem Literaturhaus Schleswig-Holstein in Kiel, wundervoll in der Nähe der Förde in einem kleinen Park gelegen, fand am Samstag, den 05. 04. ueine Lesung des Vereins Nordbuch e. V.  zum Thema Herzensangelegenheit statt. Das Thema wurde vermutlich gewählt, um bei den in Kiel so häufig herrschenden kühlen, um nicht zu sagen: eisigen Temperaturen auf das Herz als einem überlebenswichtigen Energie-Wärmeproduzenten des menschlichen Organismus hinzuweisen. Es heizt dazu mit nicht-fossilen Brennstoffen, die nicht nur, aber überwiegend dem Bereich der Gefühle und der Literatur angehören.

Ich las eine Episode aus meinem im Juni bei Königshausen & Neumann erscheinenden Roman Miquelallee, die an der Hauptwache in Frankfurt spielt, dort wo mein Herz seit meiner Kindheit Wärme produziert. Also etwas für Frankfurt-Fans. Es geht darin um die Tochter, die zu am Tag vor Heiligabend  zu Besuch in der Wohngemeinschaft ist, aber die Mutter hat keine Zeit und bittet die Freundin, die sich ausschließlich dem Philosophie-Studium widmet, etwas mit der Kleinen zu unternehmen.

Sie können diesen Ausschnitt im Folgenden selbst nachlesen. Vielleicht macht er ja Appetit auf das ganze Buch …

Lesezyklus Herzensangelegenheiten, Literaturhaus Kiel, 5.4.2025

Hauptwache

„Sag mal, Ulli, du magst doch Kinder?“ Am späten Abend, als Doro endlich schlief, nahm Mona, sichtlich erschöpft, Ulli zur Seite. „Im Prinzip ja, sie sind, wie du weißt, nach Hegel die Mitte der Liebe, die meisten Kinder mag ich dennoch nicht, sie nerven mich. Sie sind süße kleine Zeiträuber“, gab Ulli wahrheitsgemäß von sich.

„Aber Doro magst du doch?“, hakte Mona nach. „Ja, die schon, sehr sogar!“ Ulli ahnte bereits, was Mona von ihr wollte. Die Freundin kam sofort zur Sache. „Sie mag dich auch, ihr könnt so gut miteinander. Kannst du was mit Doro unternehmen? Im Sommer hat euch beiden der Besuch im Zoo sooo viel Spaß gemacht!“ „Morgen geht es leider nicht, da habe ich noch Seminar“, entgegnete Ulli. Aus Monas Augen schossen scharfe Blicke wie lange dünne Nadeln aus blankem Stahl auf Ulli, die sich sofort getroffen fühlte und einlenkte. „Na gut, ich lass es sausen, für dich und für Doro. Mein Weihnachtsgeschenk. Aber zum Mithelfen beim Kochen habe ich dann no time.“ Mona war ein erleichtert: „Du bist ein Schatz! Nee, nee, Kochen, das machen wir schon, es soll ja nicht angebrannt oder versalzen schmecken.“

Am nächsten Morgen spielte Doro mit ihren Puppen Verstecken und suchte nach Mitspielern, da ihre Mutter die Wohnung schon vor einiger Zeit verlassen hatte. Draußen zog die Kälte an, der Schnee, der am Tag zuvor gefallen war, schien über Nacht vereist zu sein. Doch zum Schlittenfahren war die dünne Schneedecke noch nicht geeignet, obwohl sie so verführerisch auf den Wiesen im Grüneburgpark und im Palmengarten glitzerte. Ulli suchte für sich und Doro Winterklamotten zu sammen und half ihr, den dick gefütterten rosaroten Schneeanzug anzuziehen. Voller bunter Bommeln. Doro sah mit ihren großen braunen Augen und dem rötlich-blonden Lockenkopf so lieb aus, dass Ulli es nicht verhindern konnte, ihr viele Küsse auf die Wangen zu geben. Eingepackt mit Mütze, Schal und Handschuhen kam die Frage: „Wo fahren wir denn hin?“ „Doro, du weißt doch, ich habe kein Auto, im Sommer sind wir ja den ganzen Weg bis zum Zoo gelaufen. Jetzt schaffen wir es bestimmt bis zur Hauptwache. Dort wartet eine Überraschung auf dich! Ein dickes, fettes Schwein, das ganz süß schmeckt.“  „Und das essen wir auf?“ Ihr hoffnungsvolles Stimmchen begeisterte Ulli. „Nicht das ganze, nur ein paar Stückchen davon, oder glaubst du, du kannst ein ganzes Schwein aufessen?“ „Wenn es nicht wegläuft und ich ganz großen Hunger habe!“ „Deshalb müssen wir jetzt los, bevor es wegläuft. Also, ab durch die Mitte!“ Mit diesem Appell ihres Vaters begannen in Ullis Kindheit samstags wie sonntags die endlos langen Spaziergänge mit ihren Eltern, vom Vorder- in den Hintertaunus und wieder zurück.

Sie gingen den kleinen Durchgang zum Grüneburgpark am Ende des Palmengartens. Als Doro den Schnee auf der Wiese entdeckte, hörte Ulli nur einen Jubelschrei und weg war sie. Sie schmiss sich auf die dünne Schneedecke und wälzte sich nach allen Seiten. „Warum eigentlich nicht“, dachte Ulli und folgte Doro ohne Rücksicht auf den hellen knöchellangen Pelzmantel, den sie sich aus Monas Garderobe ausgeliehen hatte, und der nun bei den vielen Umdrehungen auf der Wiese von der Mischung aus Schnee und Schlamm unvorteilhafte Dreckspuren abbekam. Das war eben der Preis, wenn man sich einmal so richtig mit einem Kind austobte, so, als ob man selbst noch ein Kind sei. Schließlich kratzten das große und das kleine Kind den Schnee zu kleinen Bällen zusammen und eine wilde Schneeballschlacht begann, die Doro selbstverständlich für sich entschied. Um das kunstvoll aufgetragene Make-up – Mona hatte Ulli dafür wichtige Anregungen gegeben – war es geschehen. Aber was interessieren einen die Schönheitsideale von Männern und Frauen, wenn zwei ungebändigte Kinder die Freuden des Winters genießen und sich beide um die Wette mit Schnee einseifen.

„Ich will nicht mehr laufen.“ Auf dem Weg zur Hauptwache protestierte die Kleine. Sie setzte sich mitten auf den Grüneburgweg hin und wollte keinen Schritt mehr weitergehen. „Wenn wir uns nicht beeilen, ist das Schwein nicht mehr da. Das wartet schon so lange auf uns“, versuchte Ulli die widerspenstige Doro zu begeistern, den Weg fortzusetzen. Die Kleine spürte gerade, dass der weitere Verlauf von ihrem Willen abhing. Sie stellte die Machtfrage. Es dauerte ein langes Weilchen, mit einem Hin und Her von Wünschen und Versprechen, von Überreden und Überzeugen, von Bitten und Aufforderungen, bis die Machtfrage zugunsten von Ullis Plan, den Weg fortzusetzen, entschieden wurde. Doro stand wieder auf, ließ sich den Schnee und den Dreck von ihrem Anzug abklopfen und Hand in Hand ging es weiter. Schließlich schafften sie es bis auf die Zeil.

Als sie am Kaufhof ankamen, war Doros Widerborstigkeit wie weggeblasen. Große Weihnachtsbäume standen an den Eingängen, die Fassaden waren mit Zweigen und Lichterketten dekoriert, von irgendwoher erklang Leise rieselt der Schnee. Wie jedes Jahr zu Weihnachten wurden die Passanten von den wundervoll geschmückten Schaufenstern angezogen. Alljährlich zu Weihnachten präsentierte der Kaufhof phantasievolle Dekorationen aus Steiff-Tieren, Lego-Bausteinen und vielen bunten Spielfigürchen. Jedes Jahr wurden besondere Szenen nachgebaut. Dieses Jahr waren Szenen aus Frankfurt dargestellt. Da standen das kleine und das große Kind lange davor und studierten die Details in den einzelnen Auslagen. Doro machte große Augen und drückte ihre Stirn fest an die Glasscheibe.

Auf einmal erkannte sie im ersten Schaufenster den Frankfurter Zoo mit seinen Flamingos.  „Guck mal, guck mal die Flamingos! Alle stehen wieder auf einem Bein. Da waren wir doch im Sommer“, rief das kleine Kind und stand sofort auch auf einem Bein. „Und dahinter ist das Exotarium mit den gefährlichsten Reptilien der Welt. Siehst du das Auge an dem runden Fenster. Ich glaube, es gehört dem Krokodil“, ergänzte das große Kind. Tatsächlich sah man ein riesiges Auge von einem Krokodil. Es glotzte freundlich interessiert aus dem Fenster des Gebäudes heraus und schien die Betrachter aufzufordern, es einmal in seinem Zuhause, in Dr. Grzimeks Zoo, zu besuchen.

„Das kann nicht rauskriechen. Ulli, du brauchst keine Angst zu haben.“ Doro beruhigte Ulli. „Wenn du dabei bist, habe ich keine Angst“, erwiderte Ulli. „Und du brauchst keine Angst zu haben, wenn ich dabei bin.“

Im nächsten Schaufenster waren tief im Fluss liegende Binnenschiffe und die Brücke, der Eiserne Steg, zu sehen. Es entwickelte sich ein Streitgespräch, ob es sich dabei um den Main oder den Rhein handelte, den Doro von ihrem Zuhause in der Nähe von Bonn kannte. Schließlich entdeckten sie die imposanten Lego-Nachbauten von Dom und Römer. Vor dem Römer stand eine Kutsche, aus der gerade ein künftiger Kaiser zu seiner Krönung ausstieg.

Im letzten Schaufenster machte der Kaufhof für sich Werbung. Mit Tausenden von kleinen Legosteinen hatte man das Kaufhaus mit der Weihnachtsdekoration und den Schaufenstern nachbauen lassen, vor denen Kinder und Erwachsene andächtig standen. Das Glas der Schaufenster war an manchen Stellen vom Atem der dicht davorstehen den kleinen und großen Bewunderer getrübt.

„Guck mal Ulli, da stehen wir“, rief Doro plötzlich.  „Tatsächlich! Das bist du in deinem Schneeanzug mit den Bommeln.“ Ulli, die Spezialistin für Selbstreflexion, war begeistert. „Daneben steht die Mama mit dem langen Mantel. Bist du auch meine Mama?“ Doros Frage war für Ulli schwer zu beantworten. „Naja, irgendwie schon.“ Sie fand, Kindern sollte man die Wahrheit sagen, aber traurig darf man sie nicht machen. „Dann musst du aber auch oft zu deinen beiden Mamas nach Frankfurt kommen! Sonst sind wir traurig.“ Ulli drückte sie fest an sich.

Aber Doro war schon wieder ganz aus dem Häuschen, weil sie im Schaufenster alle möglichen Kinder und Erwachsenen zu entdecken glaubte, die sie von zuhause her kannte. Die Werbung war gelungen! Als sie so richtig durchgefroren waren, wurde es Zeit, sich aufzuwärmen und die angekündigte Überraschung im Untergeschoss des Kaufhofs zu besichtigen und zu kosten. Dort lag nämlich ein dickes rosiges Marzipanschwein faul auf einem Tisch herum. Von ihm konnte man sich Scheiben abschneiden und einpacken lassen, die fabelhaft schmeckten. Reines Marzipan eben.

Schon in Ullis Kindheit, wenn sie mit ihrer Mutter zum Einkaufen auf die Zeil fuhr, war der Besuch dieses Schweins ein vorweihnachtlicher Höhepunkt gewesen, der nicht fehlen durfte. „Ich habe einen so großen Hunger!“ Doro war begeistert. Ulli bestellte eine große Portion mit fünf Scheiben. Die Verkäuferin schnitt sie vom Rüssel des Schweins ab. „Aufhören, das arme Schwein. Das tut ihm doch weh!“, schrie Doro auf einmal. Es war zu spät.

Die Scheiben vom Schweinerüssel wurden schon auf der Waage abgewogen und eingepackt. Ulli dachte kurz darüber nach, dass in Doros Alter die Unterscheidung von Lebewesen und Dingen, etwa nach der Stufentheorie von Piaget, doch eigentlich schon bekannt sein müsste. Trotzdem war es verständlich, dass es wehtat zu sehen, wie einem so lieben Ding wie dem Marzipanschwein der Rüssel gekürzt wird. „Das wächst bis morgen wieder nach“, meinte Ulli. „Dann kommen wir morgen wieder hierher“, piepste Doro. „Aber da ist doch Heiligabend!“, antwortete Ulli.  Das Marzipan schmeckte so vorzüglich, dass auch Doro ihren Schmerz über das faul daliegende Schwein, das scheibchenweise Weise geschlachtet wurde, schnell vergaß.

Die nächsten Programmpunkte waren eine aufregende Straßenbahnfahrt nach Bockenheim und ein Kurzbesuch in der Huss’schen Buchhandlung, schließlich war Doro ein angehendes Schulkind. Ulli verzichtete auf den üblichen längeren Aufenthalt dort, streifte die Auslagen in der Philosophie-Abteilung nur mit wenigen Blicken, wünschte der Chefin ein frohes Fest und widmete sich vorwiegend den Kinder- und Jugendbüchern. Die Kleinmädchenliteratur mochte sie nicht, hatte niemals ein Buch davon besessen. Aber da lag es, das ergreifendste Buch aller Bücher: Wolfsblut von Jack London. Ein Weihnachtsgeschenk für Doro, auch wenn sie es vermutlich erst in einigen Jahren würde lesen können. Das Buch wurde eingepackt. Über die Leipziger Straße ging es zurück nach Hause. Dort stand das Christkind schon vor der Tür.


Aus dem Klappentext:
„In Miquelallee begeben sich drei Frauen nach Enttäuschungen in der Ehe auf die Suche nach sich selbst und nach neuen Formen des Zusammenlebens. Dazu gehört der Versuch, ihre Wohngemeinschaft als modernes Matriarchat zu gestalten. Studium und die Inspirationen der universitären Lebenswelt bringen sie dem Ziel näher, ihr Unabhängigkeitsstreben beruflich abzusichern. Neben ungeahnten intellektuellen, ästhetischen und erotischen Erlebnissen bleiben jedoch Enttäuschungen, Verluste und Momente der Desillusionierung nicht aus. Die späten 1970er Jahre bilden den Hintergrund als eine Zeit des Experimentierens – jenseits radikaler Ziele – und des sich neu Erfindens einer ganzen Frauengeneration. Christiane Bender gelingt es, philosophische Ideen als Leitbilder im Alltag zu gestalten und dem Alltag mit seinen komisch-tragischen Ereignissen eine philosophische Aura zu verleihen. Frankfurt zeigt sich als offene Stadt, die Selbstsuchertum nicht nur ermöglicht, sondern geradezu herausfordert. Und so ist Miquelallee auch eine Hommage an die Stadt am Main.“

 

Autor: bender

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