Leserbrief an die FAZ zum Artikel „Eine Last der Vernunft“ vom 6.10.2021

Wer sich mit Hegel beschäftigt, wird kritische Auseinandersetzungen mit seinem Werk, wie sie im Artikel gefordert werden, willkommen heißen. Für Generationen von Lesern und Leserinnen war die kritische Perspektive (etwa die des Linkshegelianers Karl Marx, des Neukantianismus im 19. und im 20. Jahrhundert, des kritischen Rationalismus, vor allem von Karl Popper, der Kritischen Theorie) der Grund zur Hegel-Lektüre. Hegel ermunterte die Kritiker, wenn er das Geschäft der Philosophie definiert als „ihre Zeit in Gedanken“ zu erfassen. Wer hätte aufgrund der rasanten Wissenschaftsentwicklung als später- und nachgeborenes Individuum nicht Kritisches anzumerken!

Allerdings beharrte Hegel darauf, dass Empörung und Gesinnung nur einen geringen Beitrag zur Wahrheit (im Sinne der Erweiterung von Erkenntnis) liefern, er forderte hingegen immer wieder Arbeit am Begriff, die Klärung der Voraussetzung der Argumentation und die „Rechtfertigung durch den Gedanken“. Auf diesem Anspruch beruht die Universität bis heute und es gehört nicht zur Praxis universitärer Forschung und Lehre Kritikwürdiges zu unterschlagen. Heldenverehrung, wie im Artikel unterstellt, ist dort eher unüblich. Die viele Kritik an Hegel (Totalitarist, Preußen-Apologet, Kopfsteher, Teleologe, Systemdenker etc.) hätte längst dazu geführt, dass sein Werk vom Lektüre-Plan verschwindet, wenn er nicht von dem allgemeinen, also auf alle bezogenen Begriff ausgegangen wäre, Menschen als geistige und damit zur Freiheit befähigte Wesen zu betrachten, die in der Geschichte – die Französische Revolution als Aufbruch und als Schrecken ist der Erfahrungskontext – zum Bewusstsein ihrer selbst gelangt sind und dadurch die vorgefundenen Verhältnisse historisch neu deuteten und veränderten. Aufgrund dieser Freiheitserfahrung mit der damit verknüpften Forderung nach objektiv geltenden Rechten in Staat und Gesellschaft wird rückblickend Geschichte als ein durch Sinn (Geist) gesteuerter Bildungsprozess deutbar, in welchem Menschen über ihre „bloße“ Natur (Doppelsinn: als körperliche und als ihrer Freiheit unbewusste Wesen) hinaus zu sich selbst finden. Dieser Prozess wiederholt und verbreitet sich und wird in jeder Generation erneut durchlaufen und vielerorts als Kampf gegen vorgegebene Lebensverhältnisse und deren Repräsentanten geführt. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt Hegel weder Sklaverei noch Rassismus. Im Sinne eines Weiterdenkens mit Hegel gegen Hegel als gute hermeneutische Praxis werden wir hoffentlich künftig noch viel über andere Völker und – auch ein Ärgernis – über Frauen erfahren, Wesen, die Hegel mit Pflanzen vergleicht. Dennoch hat Hegel die Dialektik des schwierigen-schmerzhaften Kampfs um Anerkennung im Interesse ihrer Selbstbestimmung, zu dem sich immer wieder Individuen, Minderheiten, soziale Schichten, Gruppen, die ethnisch und religiös von Mehrheiten unterschieden sind oder wozu sich regional begrenzte Bevölkerungen veranlasst sehen, unübertroffen zutreffend analysiert.

Prof. Dr. Christiane Bender, Hamburg

Generation Französische Revolution

Kleiner Auszug aus meinem noch unveröffentlichten Manuskript im „Jahrbuch für politisches Denken“, 2021 zum Ausbleiben eines angemessenen Gedenkens an drei herausragende Geistesgrößen der Generation Französische Revolution.

„Das Jahr 2020 wird den Deutschen und mit ihnen einem großen Teil der Weltbevölkerung auf lange Zeit unvergessen sein. Die bedrohliche Atemwegserkrankung, ausgelöst durch das Virus SARS-CoV-2, hatte Deutschland erreicht und breitete sich pandemisch aus. Die Maßnahmen zur Krisenbekämpfung führten eine seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr dagewesene Einschränkung des individuellen und nahezu einen Stillstand des öffentlichen Lebens herbei. Kulturelle Veranstaltungen wurden abgesagt oder fanden digital, ohne anwesendes Publikum statt.

Dabei hätte das Jahr 2020 ein an Feierlichkeiten reiches Jahr zu Ehren der 250. Geburtstage von drei Ausnahmepersönlichkeiten, Hegel, Hölderlin und Beethoven, werden sollen, die mit ihren Werken ein unvergleichliches, weltweit rezipiertes und Traditionen stiftendes Erbe geschaffen haben. Ihre Hinterlassenschaft in Erinnerung zu rufen, zu würdigen und an nächste Generationen weiterzugeben, gehört zu den dringenden Aufgaben der Protagonisten unserer heutigen Wissensgesellschaft. … „Generation Französische Revolution“ weiterlesen

Leserbrief zu dem Artikel „Wie rassistisch sind wir?“ vom 25.01.2021 im Hamburger Abendblatt:

Diese Überschrift, die mit „wir“ nebulös möglicherweise alle HA-Leser oder Deutschen anspricht, empfinde ich respektlos und beleidigend. Beleidigend und ein Verstoß gegen die guten Sitten einer Redaktion ist, dass in der Frage bereits als Tatsache unterstellt wird, dass „wir“ rassistisch sind und nicht, ob „wir“ überhaupt rassistisch seien. Lediglich die Äußerungsformen, „wie“ rassistisch „wir“ sind, steht infrage. Rassistisch zu sein bedeutet in Deutschland, dass „wir“ nicht dem Grundgesetz, vor allem den Grundrechten des Art. 1- 3 und dem Diskriminierungsverbot in Art.3 (3) folgen und tendenziell zu strafbaren Handlungen (StGB§130) bereit sind. Dagegen verwahre ich mich. „Leserbrief zu dem Artikel „Wie rassistisch sind wir?“ vom 25.01.2021 im Hamburger Abendblatt:“ weiterlesen

Zu Hegels 250. Geburtstag

 

Titelbild: Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) mit Studenten. Lithographie.

»Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert. Die kraftlose Schönheit haßt den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.« G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede, S.36

Zu Hegels 250. Geburtstag

Lieber großartiger  Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, endlich, zu Deinem 190. Todestag, komme ich meinem lang gehegten Wunsch nach, Dir einen Dank aufzuschreiben – für die wunderbare Philosophie, die Du hinterlassen hast. Es war oftmals für mich anstrengend und mühevoll, mich anhand des Leitfadens Deiner Werke der Arbeit am Begriff, am Begreifen der Welt zu unterziehen. Ich spürte: Es gibt viele große Geister, aber keiner hat wie Du ausgeführt, was es heißt, Gewissheiten zu haben, wahrzunehmen, Erfahrungen zu machen, sich und andere zu begreifen und anzuerkennen – dabei  sich bewusst zu werden, dass wir Menschen uns zwar an Vorstellungen von uns selbst, der Welt und vom anderen Ich binden, aber dass wir als denkende Wesen das Bewusstsein der Differenz zu dem, was wir so gern vereinen würden, niemals verlieren können. „Zu Hegels 250. Geburtstag“ weiterlesen