Leserbrief zu dem Artikel „Wie rassistisch sind wir?“ vom 25.01.2021 im Hamburger Abendblatt:

Diese Überschrift, die mit „wir“ nebulös möglicherweise alle HA-Leser oder Deutschen anspricht, empfinde ich respektlos und beleidigend. Beleidigend und ein Verstoß gegen die guten Sitten einer Redaktion ist, dass in der Frage bereits als Tatsache unterstellt wird, dass „wir“ rassistisch sind und nicht, ob „wir“ überhaupt rassistisch seien. Lediglich die Äußerungsformen, „wie“ rassistisch „wir“ sind, steht infrage. Rassistisch zu sein bedeutet in Deutschland, dass „wir“ nicht dem Grundgesetz, vor allem den Grundrechten des Art. 1- 3 und dem Diskriminierungsverbot in Art.3 (3) folgen und tendenziell zu strafbaren Handlungen (StGB§130) bereit sind. Dagegen verwahre ich mich.

Ich wundere mich über diese in der Frage enthaltene Behauptung als Legitimation für die Durchführung des im Artikel besprochenen NDR-Experiments in einer Zeit, in der „wir“ im Sinne der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung solidarisch darum ringen, die für „uns“ alle bedrohliche Pandemie zu überwinden. Von 2015 an haben die Deutschen, teilweise bis an die Grenze kommunaler, oftmals auch ehrenamtlicher und persönlicher Belastungsfähigkeit zwei Millionen Menschen willkommen geheißen und ihre Bereitschaft zu einem friedlichen Zusammenleben zum Ausdruck gebracht. Die Akteure dieser Willkommenskultur, zumeist „weiße“ Männer und Frauen der Nachkriegsgenerationen (die geburtenstarken Baby-Boomer-Generation und deren Nachkommen), sind eben nicht, wie der „Moderator“ des Experiments unterstellt, durch ihre Sozialisation „Teil des Problems Rassismus“ geworden, sondern sie haben sich in ihrer Mehrheit eine tief verankerte Abkehr vom Rassismus in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zu eigen gemacht. Ihre Sozialisation beruhte auf einem säkularisierten christlichen Menschenbild, auf der Begeisterung für kulturelle Vielfalt und Interesse an Völkern, die einem bislang unbekannt waren. In Kirchen und Familien war die amerikanische Bürgerrechtsbewegung ein häufiges Thema und Jung und Alt trauerten 1968 um Martin Luther King Jr. Auch das Schicksal der unter der Apartheid leidenden südafrikanischen Bevölkerung war in der BRD über Jahrzehnte gegenwärtig und die Verehrung für Nelson Mandela war überall groß. Inwieweit sich jedoch Individuen unterschiedlicher Herkunft Zugang zu ihren Wohnungen, ihren Betten und Herzen öffnen, hängt weniger von Gesprächen ab, als von Erfahrungen im näheren und fernen Umfeld, von erlebten Übereinstimmungen und der Ressource Vertrauen, die allmählich wächst oder auch nicht. Solche Prozesse dauern Generationen und mit Rassismus, den es strafrechtlich erbarmungslos zu verfolgen gilt, hat das nichts zu tun und das sollte sich niemand einreden lassen.

Daher stimmt es mich nachdenklich, wenn ich mir vorstelle, wie sich Menschen bei diesem beschriebenen Experiment bereitwillig nach dem Grad ihres Rassismus vermessen lassen. Das kommt modern daher und ist doch nichts anderes als die immergleiche Masche der Heilsverssprecher, den eigenen Deutungswillen durch Verunsicherung der Befragten durchzusetzen: Wie unkeusch waren deine Gedanken letzte Nacht? Wie belastet ist deine Beziehung zum Genossen S., zur Partei, zur kommunistischen Internationale etc.? Die Verunsicherung der Bevölkerung, die sich nach Globalisierung, Wiedervereinigung und Zuwanderung nicht mehr ihrer selbst gewiss ist und der Opportunismus der Verantwortlichen in herausgehobenen Positionen (Medien, Parteien, Bildungseinrichtungen), das von einer kritischen und sittlichen Urteilskraft Gebotene hintenan zu stellen, sind zwei Voraussetzungen, die autoritäre Bewegungen stärken. Bei Rassismus hört der Spaß auf!

Autor: bender

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