Im Literaturhaus Schleswig-Holstein in Kiel, wundervoll in der Nähe der Förde in einem kleinen Park gelegen, fand am Samstag, den 05. 04. um 16h, eine Lesung des Vereins Nordbuch e. V. zum Thema Herzensangelegenheit statt. Vermutlich wurde das Thema gewählt, um bei den in Kiel so häufig herrschenden kühlen, um nicht zu sagen: eisigen Temperaturen auf das Herz als einem überlebenswichtigen Energie- und Wärmeproduzenten des menschlichen Organismus hinzuweisen. Das Herz verarbeitet günstige nicht-fossile Brennstoffe wie Gefühle, Erlebnisse und Geschichten zu Wärme – einem Material aus dem die Literatur entsteht. Gelegentlich reagiert es jedoch nicht und bleibt kalt.
Ich las eine kleine Episode vor, die an der Hauptwache in Frankfurt spielt, dort wo mein Herz seit meiner Kindheit Wärme produziert. Also etwas für Frankfurt-Fans. Es geht darin um die Tochter, die über Weihnachten in der Wohngemeinschaft zu Besuch ist. Die Mutter hat aber keine Zeit und bittet die Freundin, die sich lieber ausschließlich ihrem Philosophie-Studium widmen möchte, etwas mit der Kleinen zu unternehmen.
Auszug aus „Miquelallee. 1979“
Hauptwache
„Sag mal, Ulli, du magst doch Kinder?“ Am späten Abend, als Doro endlich schlief, nahm Mona, sichtlich erschöpft, Ulli zur Seite. „Im Prinzip ja, sie sind, wie du weißt, nach Hegel die Mitte der Liebe, die meisten Kinder mag ich dennoch nicht, sie nerven mich. Sie sind süße kleine Zeiträuber“, gab Ulli wahrheitsgemäß von sich.
„Aber Doro magst du doch?“, hakte Mona nach. „Ja, die schon, sehr sogar!“ Ulli ahnte bereits, was Mona von ihr wollte. Die Freundin kam sofort zur Sache. „Sie mag dich auch, ihr könnt so gut miteinander. Kannst du was mit Doro unternehmen? Im Sommer hat euch beiden der Besuch im Zoo sooo viel Spaß gemacht!“ „Morgen geht es leider nicht, da habe ich noch Seminar“, entgegnete Ulli. Aus Monas Augen schossen scharfe Blicke wie lange dünne Nadeln aus blankem Stahl auf Ulli, die sich sofort getroffen fühlte und einlenkte. „Na gut, ich lass es sausen, für dich und für Doro. Mein Weihnachtsgeschenk. Aber zum Mithelfen beim Kochen habe ich dann no time.“ Mona war erleichtert: „Du bist ein Schatz! Nee, nee, Kochen, das machen wir schon, es soll ja nicht angebrannt oder versalzen schmecken.“
Am nächsten Morgen spielte Doro mit ihren Puppen Verstecken und suchte nach Mitspielern, da ihre Mutter die Wohnung schon vor einiger Zeit verlassen hatte. Draußen zog die Kälte an, der Schnee, der am Tag zuvor gefallen war, schien über Nacht vereist zu sein. Doch zum Schlittenfahren war die dünne Schneedecke noch nicht geeignet, obwohl sie so verführerisch auf den Wiesen im Grüneburgpark und im Palmengarten glitzerte. Ulli suchte für sich und Doro Winterklamotten zusammen und half ihr, den dick gefütterten rosaroten Schneeanzug anzuziehen. Voller bunter Bommeln. Doro sah mit ihren großen braunen Augen und dem rötlich-blonden Lockenkopf so lieb aus, dass Ulli es nicht verhindern konnte, ihr viele Küsse auf die Wangen zu geben. Eingepackt mit Mütze, Schal und Handschuhen kam die Frage: „Wo fahren wir denn hin?“ „Doro, du weißt doch, ich habe kein Auto, im Sommer sind wir ja den ganzen Weg bis zum Zoo gelaufen. Jetzt schaffen wir es bestimmt bis zur Hauptwache. Dort wartet eine Überraschung auf dich! Ein dickes, fettes Schwein, das ganz süß schmeckt.“ „Und das essen wir auf?“ Ihr hoffnungsvolles Stimmchen begeisterte Ulli. „Nicht das ganze, nur ein paar Stückchen davon, oder glaubst du, du kannst ein ganzes Schwein aufessen?“ „Wenn es nicht wegläuft und ich ganz großen Hunger habe!“ „Deshalb müssen wir jetzt los, bevor es wegläuft. Also, ab durch die Mitte!“ Mit diesem Appell ihres Vaters begannen in Ullis Kindheit samstags wie sonntags die endlos langen Spaziergänge mit ihren Eltern, vom Vorder- in den Hintertaunus und wieder zurück. „Lesung aus meinem neuen Roman »Miquelallee«“ weiterlesen