Zu „Weiblich, fünfzig, unsichtbar“

Leserbrief zum Artikel von Melanie Mühl (FAZ v. 23.03.2023)

Helen Mirren
Helen Mirren (DCI Jane Tennsion in Prime Suspect): weiblich, 77, sichtbar

Der Beitrag „Weiblich, fünfzig, unsichtbar“ (FAZ, 23.03.2023) der geschätzten Melanie Mühl erscheint mir „aus der Zeit gefallen“ zu sein.

1. Frau Mühl reproduziert darin das Vorurteil, die Sicht der Frauen auf die Ästhetik ihres Körpers sei durch den Blick des Mannes bestimmt. Jungen und älteren Frauen wird abgesprochen, ein (ur)eigenes Interesse an ihrer Schönheit, Ästhetik und Mode zu haben.

2. Die Autorin reproduziert außerdem das Vorurteil, dass die ästhetische Selbstdarstellung junger Frauen in den Medien, in der Mode und gelegentlich mit Hilfe der plastischen Chirurgie keinen selbstbestimmten Willen zum Ausdruck bringe. Auf kommunaler Ebene, so gebe ich zu Bedenken, gehen wir vielerorts davon aus, dass Jugendliche ab 16 Jahren auf dem Stimmzettel bei Wahlen ihren authentischen politischen Willen ausdrücken, aber beispielsweise der Wunsch von jungen Frauen, die Couperose auf ihren Wangen lasern zu lassen, sollte als fremdbestimmt angesehen werden?! Das überzeugt nicht.

3. Frau Mühl zitiert unkommentiert ein geradezu ärgerliches Vorurteil, dass Frauen, die den Spuren des Älterwerdens im Erscheinungsbild durch ästhetische Maßnahmen begegnen, „mitunter den Blick für Natürlichkeit“ verlören. Das erinnert an die patriarchale Kritik am Lippenstift aus den 60er und 70er Jahren der alten Bundesrepublik und reproduziert damals wie heute eine Feindschaft gegenüber der Lust und der Freude von Frauen, den eigenen Körper zu verschönern. Das hat wenig mit Natur und viel mit Kultur zu tun.

Ein bisschen Soziologie: Im Vergleich mit der Kohorte der Frauen in der Boomer-Generation ist die der heutigen jüngeren Frauen viel kleiner. Schon deshalb profitieren diese von größerer gesellschaftlicher Aufmerksamkeit. Sie verfügen über gute Bildungsabschlüsse und über privilegierte Zugänge zu vielen Berufen des tertiären Sektors, in denen es um Kommunikation und Präsenz geht. Sie sind gefragt und können sich selbstbewusst daran erfreuen, wie sehr sie wahrgenommen werden. Zu wünschen ist, dass sie nun ihre ästhetischen Ansprüche, zusammen mit den älteren Frauen, die als Mütter-Generation bereits dazu Vorarbeiten geleistet haben, auch den Männern gegenüber zum Ausdruck bringen: Kraftmeierei, Welterklärertum und Familienernährer-Bonus reichen heutzutage keineswegs mehr aus, um als attraktiv empfunden zu werden. Was Männern dabei noch fehlt, können sie von Frauen lernen.

Prof. Dr. Christiane Bender, Hamburg


Foto: Harald Krichel / Creative Commons Lizenz

Autor: bender

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