Siehe auch die erweiterte Deutschlandarchiv-Fassung dieser Arbeit bei der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb).
Siehe auch den Artikel und Podcast mit Prof. Christiane Bender im Hamburger Abendblatt vom 28. Februar 2023 mit Podcast
Am 27. Februar jährte sich die Regierungserklärung, die der deutsche Bundeskanzler drei Tage nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine abgab. Sie wurde im In- und Ausland bejubelt. In schwieriger Zeit fand Olaf Scholz klare Worte der Analyse und Verurteilung. Sichtlich erschüttert beschrieb er die verheerende Lage der ukrainischen Bevölkerung und die Konsequenzen für die Gefährdung, ja Zerstörung der europäischen Friedensordnung. Der Kanzler erkannte, allein mit den bisherigen Mitteln der deutschen Politik, mit Verhandlungen und Sanktionen, kann man den Vormarsch nicht aufhalten. Er kündigte daher eine Zeitenwende der Regierungspolitik an. Dazu zählen: die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen, die Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik neu auszurichten, Sanktionen zusammen mit der EU gegen Russland zu verhängen und ein zusätzliches Sondervermögen für die nachholende Ausrüstung der Bundeswehr bereitzustellen, damit sie den zentralen Aufgaben der Landes- und Bündnisverteidigung künftig gewachsen ist.
Obwohl das skizzierte Tableau etliche Tabubrüche mit den bisherigen Leitlinien (keine Waffenlieferungen in Krisengebiete) und eine Abkehr von der russlandfreundlichen Entspannungspolitik nach der Wiedervereinigung (seine scharfe Kritik an Putin) enthielt, schuf Scholz Vertrauen in seine Handlungsfähigkeit, die schwierige Gratwanderung zu meistern, Deutschland mit seinen Bündnispartnern nicht zur Kriegspartei zu machen und sich dennoch dafür einzusetzen, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf. Olaf Scholz wagte damals noch den Ausblick, dass sich Russland eines Tages wieder in eine friedensbewahrende Nachkriegsordnung einbinden lässt. Damit beruhigte er die sorgenvolle und zugleich gegenüber der Erwartung von eintreffenden ukrainischen Flüchtlingen hilfsbereite deutschen Bevölkerung. Es gelang dem Kanzler, für seine Politik sowohl die westlich orientierten als auch die russlandgewogenen Kreise seiner Partei zu gewinnen. Letztere bilden hierzulande über Generationen hinweg eine einflussreiche Trägergruppe der weithin verbreiteten Sympathie mit Russland bei gleichzeitig gehegter Skepsis gegenüber den USA. Außerdem bekam der Kanzler Zustimmung von den verantwortungs- und gesinnungsethischen Strömungen, die heutzutage die deutsche Politik prägen. Max Weber stieß auf diese signifikanten Unterschiede bereits am Ende des Kaiserreichs in seinen Analysen über das Politikverständnis in den Parteien und bei ihren Führern.
Kommunikationswissenschaftlich betrachtet war die Regierungserklärung von Olaf Scholz eine Meisterleistung: Mit einem gelungenen Framing (Einrahmen) durch den Begriff Zeitenwende wurden Themen, Werturteile und Handlungsoptionen in einem nachvollziehbaren Zusammenhang verbunden, den sich die Zuhörerschaft zu eigen machte. Als performative Sprachhandlung eines mit Richtlinienkompetenz ausgestatteten Bundeskanzlers handelte es sich nicht nur um eine Rede, sondern schon um den Beginn einer neuen Politik. Zudem etablierte der Begriff Zeitenwende in der mediengestützten Öffentlichkeit ein Deutungs- und Kommunikationsuniversum für Verständigung, Meinungs- und Willensbildung.
Nach einem Jahr, gekennzeichnet von diversen sich überschneidenden Krisenkommunikationen, hat die Regierung einiges geleistet, um die Ukraine zu unterstützen, die Energieversorgung in Deutschland zu gewährleisten, die in der Bundeswehr seit Langem erstrebte Trendwende voran zu bringen und Koalitionen in der EU und weltweit gegen den Aggressor zu schmieden. Aber eine Sicherheitsstrategie, die über Jahrzehnte vernachlässigt, treffender ausgedrückt: für überflüssig betrachtet wurde, unter dem Druck eines heißen Krieges in Europa mit seinen nicht zu verleugnenden Ungewissheiten aus der Taufe zu ziehen, das bekommt auch ein Kanzler wie Olaf Scholz nicht hin – auch wenn er Führungsstärke beansprucht und man ihm „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß“ (Max Weber) zutraut. Man erinnert sich, dass er als Arbeitsminister in der Finanzmarktkrise ein erfolgreiches Krisenmanagement betrieben hatte. Aber angesichts der gewaltigen Umsetzungsschwierigkeiten der Politik verflüchtigt sich bisweilen das Charisma, das ihm mit seiner Zeitenwende-Rede zuteilwurde. Kritisiert wird, der Kanzler ließe die Öffentlichkeit im Unklaren, welche Ziele er, und das heißt Deutschland, mit der zögerlichen Unterstützung der Ukraine verfolge. Im Bündnis zu handeln, ersetze, so wird argumentiert, nicht die eigene Verantwortung, strategisch anzustrebende Ziele und die geeigneten Mittel dafür zu benennen und bei eingeschlagenen Wegen zu reflektieren, was auf diese Weise erreicht werden kann. Solche Debatten drehen sich seit längerem im Kreis. Hilft da der Blick in des Kanzlers Lieblingslektüre, seine schwierige Lage zu begreifen?
Verantwortung und Gesinnung – Max Weber und Olaf Scholz
Kürzlich posierte der Kanzler auf einem seitengroßen Foto im „Spiegel“, wie er die Reclam-Ausgabe von Max Webers „Politik als Beruf“ aus seiner Brieftasche hervorzieht, offensichtlich um der Leserschaft zu demonstrieren, dass er das Büchlein, möglicherweise als Ratgeber, immer bei sich trägt. Diese Interpretation würde insofern passen, als der Text die ausgearbeitete und ergänzte Rede vom 28. Januar 1919 in München umfasst, die Weber während der heftig umkämpften Zeitenwende hielt: Das Kaiserreich war beendet und die Etablierung der ersten Demokratie in Deutschland, der Weimarer Republik, nahm Fahrt auf.
Damals prognostizierte der Heidelberger Universalgelehrte, der bisherige traditionsgebundene (preußische) Führungsstil in der Politik würde Vergangenheit werden, die Zukunft würde Politikern gehören, die sich entweder gesinnungs- oder verantwortungsethisch verhielten. Noch heute wird diese binäre Typologie gern zur Beurteilung von Führungspersönlichkeiten verwendet: Gesinnungsethiker versprechen dem Wahlvolk, sozialmoralisch anerkennenswerte Ziele und Werte zu erfüllen, aber sie verkennen oder ignorieren bewusst die Bedeutung von Mitteln und Methoden, die dabei zum Einsatz kommen. Verantwortungsethiker dagegen definieren ihre Ziele in Hinblick auf die Mittel, insbesondere auf die „legitimen physischen Gewaltmittel“ (Max Weber), für die sie als Politiker zuständig sind. Sie ziehen Wechselwirkungen zwischen der Bestimmung von Zielen, dem Einsatz der Mittel und den lang- und kurzfristig zu erwartenden Folgen der Umsetzung ihrer Politik in Betracht. Olaf Scholz, der ehemalige Protagonist der „Schwarzen Null“, wird zumeist den Verantwortungsethikern zugeordnet, der nichts verspricht, was er nicht auf eine für die Bürger und Bürgerinnen annehmbare Weise halten kann, und so sieht er sich (nach den wilden Juso-Jahren) selbst.
Max Weber vertrat während der Zeitenwende 1918/1919 die Überzeugung: Wenn überkommene Institutionen und Gewissheiten den Menschen keine Orientierung mehr bieten, dann braucht es in der Demokratie einen politischen Führer, der auf die politische Willensbildung der Bürger und Bürgerinnen Einfluss nimmt und dessen Stellung durch Rückhalt in der Bevölkerung gestärkt wird. Ein solcher Führer sollte auf keinen Fall machtbesessen sein, sich aber auch nicht, einen machtvergessenen Anschein geben und dabei verdeckt die eigenen Ziele verfolgen oder gar Gewaltausbrüche im Namen der Gewaltfreiheit billigen. Max Weber kritisierte, das politische Spektrum seiner Zeit vor Augen, vor allem die seiner Meinung nach gesinnungsethisch agierende teilweise pazifistische, räterepublikanische und Bolschewiki-freundliche Abspaltung der SPD: Ihr Anspruch, einer Politik des Friedens zu dienen, kaschiere geschickt ihren eigenen Machtanspruch, den ihre Politiker wie ihre Vorbilder mit den gleichen Gewaltmitteln durchsetzen wie „irgendein militaristischer Diktator“ (Max Weber).
Von diesem Argument könnte sich Olaf Scholz bei genauerer Lektüre unangenehm berührt fühlen: In den letzten Merkel-Kabinetten der Jahre 2014 – 2021 dienten sozialdemokratische Minister in der Außenpolitik dem hehren Ziel, den Frieden in Europa zu erhalten. Die allmähliche Veränderung der Weltlage hat aber keineswegs dazu geführt, dass sie daraufhin in der Regierung oder in der Partei dafür eintraten, neben der Entspannungspolitik auch die sicherheitspolitischen Mittel (im Land, im Bündnis und in internationalen Organisationen) weiterzuentwickeln, um den Frieden gegebenenfalls zu schützen. Außenpolitisch wurde an der „Freundschaft zu Russland“ als vorrangig probate Methode und wirtschaftspolitisch an der angeblichen Friedensformel „Wandel durch Handel“ festgehalten. Spätestens ab 2014 arbeitete man damit dem „militaristischen Diktator“ Putin in die Hände. Dieser unternahm längst Übergriffe zu einer imperialistischen Großraum-Politik und brach Verträge und Verpflichtungen. Klar wurde, dass ihm die Bewahrung der europäischen Friedensordnung nichts bedeutete. Mehr noch: Man billigte sogar seinen Standpunkt. Das dichte freundschaftlich-privatwirtschaftlich-politische Netzwerk der SPD mit Russland wurde vertieft, obwohl die Krim bereits annektiert wurde, viele Opfer durch die völkerrechtswidrigen Eroberungen Russlands in der Ostukraine zu beklagen waren, mittel- und osteuropäische Staaten Alarm schlugen und Bündnispartner in der NATO vor weiteren Bedrohungen warnten. Als Finanzminister der Merkel-Regierung erfüllte Olaf Scholz zwar die Budgetwünsche des SPD-geführten Ressorts für „Arbeit und Soziales“, dem Verteidigungsressort aber verweigerte er die dringend benötigten Finanzmittel, die Trendwende umzusetzen. Die Folge ist, dass nun ein schwieriger Abwägungsprozess zwischen Unterstützung der Ukraine und der Beibehaltung der ohnehin schon nicht vollumfänglich gegebenen Einsatzfähigkeit der Bundeswehr zu treffen ist.
Die besondere Bedeutung der Verantwortung des Politikers für die Mittel, vor allem für die innere und äußere Sicherheit, lässt sich auch auf die Situation der Zeitenwende anwenden: Wenn mehrere Kabinette hintereinander zwar gesinnungsethisch den Erhalt des Friedens propagierten, tatsächlich aber es darauf anlegten, die Friedensdividende durch Reduktion der Ausstattung der Bundeswehr zu erzielen (Reduktion der Waffensysteme, Abbau der industriellen Fertigungsanlagen, Aufgabe der übergreifenden logistischen Systeme, Abbau des einsatzfähigen Personals, Aussetzung der Wehrpflicht, Vernachlässigung der Innovations- und Forschungsförderung, Verdrängung militärischer Zirkel aus der Öffentlichkeit) zu kassieren, dann hat die nachfolgende Regierung, die sich mit einem Krieg in Europa konfrontiert sieht, ein zentrales Problem, überhaupt verantwortlich handeln zu können: Angesichts einer schweren Bedrohungssituation fehlen ihr die Mittel einer stabil materialisierten und organisierten Verteidigungsfähigkeit für eine Sicherheitspolitik, die auf den Angreifer abschreckend wirkt. Scholz muss demnach nun die Suppe, die er sich eingebrockt hat, auslöffeln.
Einige SPD-Politiker handelten als Kanzler besonders verantwortungsethisch und nahmen dafür die Ablehnung ihrer Partei in Kauf: Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt betonte stets, seine Politik sei auf den Erhalt des Friedens ausgerichtet, aber als Befürworter des NATO-Doppelbeschlusses verlor er den Rückhalt in seiner Partei. Ähnlich erging es Gerhard Schröder 2003 mit der Modernisierung der Arbeitsmarktpolitik: Seine an Deutschlands Wohlstand ausgerichtete Agenda 2010-Politik führte eine dringend benötigte Reform herbei, die in der Folge den Zugang zum Arbeitsmarkt für Millionen Menschen erleichterte. Die Partei demonstrierte wochenlang gegen ihn, aber als Protagonist einer forcierten Abhängigkeit der Energieversorgung Deutschlands von Russland konnte er auf ein aktives sozialdemokratisches Unterstützungsnetzwerk bauen.
In Anbetracht dessen wird Deutschland von ausländischen Beobachtern oftmals eine romantische Gesinnungsethik vorgeworfen, aber romantisch ist es auch zu glauben, dass Olaf Scholz von heute auf morgen dieses Orientierungsmuster in sich, in seiner Partei und in der Bevölkerung überwinden kann.
Verantwortung – ohne Kontrolle?
Möglicherweise schätzt Olaf Scholz bei seiner Vorliebe für den Klassiker Max Weber auch dessen Persönlichkeit. Webers Biographie entsprach dem von ihm selbst entworfenen Typus eines Menschen mit Berufung, der sich mit seiner gesamten verfügbaren Leidenschaft lebenslang einer „Sache“ hingibt – bei Weber war es die Wissenschaft, bei Scholz ist es die Politik, – nach den dabei zu erlangenden Weihen strebt und von seiner Umwelt Anpassung an die eigene Charakterprägung einfordert. Allerdings verfolgte Max Weber am Ende des Kaiserreichs kurzzeitig einen anderen Karrierewunsch: Nachdem er all die Jahre kritisiert hatte, dass der seiner Meinung nach zu geringe Einfluss des Reichtags auf die Regierungspolitik Parteien hervorbringt, die vorwiegend Ämterpatronage und Gesinnungskämpfe betreiben, konnte er sich während des Aufbruchs zur Republik für sein persönliches Leben eine existenzielle Wende vom Schreibtisch in die Arenen politischer Kämpfe vorstellen. In der Zeitenwende 1918/19 war Weber daher mit Beratungen, Vorträgen, Artikeln und mit Wahlkämpfen für die DDP in der Öffentlichkeit präsent. Es gelang ihm jedoch nicht, in die Nationalversammlung abgeordnet zu werden. In Friedrich Eberts Übergangskabinett ging die Position des Staatssekretärs im Reichsamt des Inneren zur Ausarbeitung der neuen Verfassung, für die er im Gespräch war, an den Staatsrechtler Hugo Preuss. Aber: Hugo Preuss holte Weber zu den entscheidenden Sitzungen im Dezember 1918 hinzu. Dort brachte er seine Lieblingsvorstellung vom plebiszitär gewählten Reichspräsidenten ein, der über dem Parlament und über den Parteien stehen sollte. Dieses Konzept bildet, wie nachzulesen ist, den Fokus in seiner Rede „Politik als Beruf“. Darin schreibt Weber, dass der Politiker seine „Hand in die Speichen des Rades der Geschichte“ legt. Das blieb ihm selbst zwar verwehrt, aber an der Führung der Hand von Hugo Preuss war er als Spiritus rector der Idee des plebiszitären Reichspräsidenten beteiligt. In der Weimarer Verfassung wurde das Amt des Reichspräsidenten mit außerordentlich weitreichenden Vollmachten zur Durchsetzung seiner Politik ausgestattet.
In diese Tradition kann und will sich ein mit Richtlinienkompetenz ausgestatteter Kanzler wie Olaf Scholz nicht stellen. Er braucht für seine Politik die mehrheitliche Zustimmung im Parlament, die Unterstützung seiner Koalitionspartner, am besten auch die gesinnungsethischen Strömungen in der Partei und in der Bevölkerung. Außerdem ist Übereinstimmung mit Bündnispartnern in Fragen der Außenpolitik angebracht. In Zeiten eines in Europa stattfindenden Großkrieges ist die Geschlossenheit des Vorgehens besonders wichtig. Kompromissfähigkeit hilft dabei mehr als Charisma im Sinne von Weber. Ob allerdings ein verantwortungsethisches und auf keinen Fall überstürztes Handeln in knapper Zeit und großer Unsicherheit die sicherheitspolitischen Versäumnisse zu kompensieren vermag, bleibt ungewiss. Am Ende einer Zeit, in der jemand, der sich mit militärischen Fragen beschäftigt hat, bereits als „Militarist“ galt, fehlt es heute an den Universitäten (von wenigen Ausnahmen abgesehen) an diskursfähigem Wissen zur Analyse, Aufklärung und Beratung, die Scholz nutzen könnte. Auch einem geläuterten Verantwortungsethiker werden die mehr oder weniger mitverschuldeten Versäumnisse der Vergangenheit zum Problem seines verantwortlichen Handelns in der Gegenwart.
Die eindringliche Warnung eines charismatischen, aber machtlosen Bundespräsidenten und Verantwortungsethikers
Ausgerechnet ein deutscher Bundespräsident, dessen Position in bewusster Abkehr von der Position des Reichspräsidenten der Weimarer Republik die Einheit des Staates „lediglich“ repräsentiert, politisch aber weder Macht noch Verantwortung gegenüber dem Parlament besitzt, hat vorausschauend schon am 31. Januar 2014, wenige Wochen vor der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der verdeckten Besetzung des Donbas, eine Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik angemahnt. Amtsinhaber Joachim Gauck (2012-2017), ein vom Eintreten für Freiheit und Verantwortung durchdrungener charismatischer Sympathieträger, eröffnete mit seiner Rede „Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen“ die 50. Münchner Sicherheitskonferenz. Wie keine andere öffentliche Persönlichkeit spricht Gauck oftmals von der Verantwortung, die Freiheit zu erhalten. Lebensgeschichtlich hat er den eigenen Freiheitsentzug durch die DDR-Diktatur gegenüber den Bürgern selbst durchlitten und den Aufbruch in die Freiheit während der Zeitenwende von der friedlichen Revolution zur Wiedervereinigung verantwortungsbewusst mitgestaltet. Nun rät er mit Blick auf Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik zu überlegen, was wir heute zu verändern haben, damit „morgen bleibt, was uns wesentlich ist“.
Ausbalanciert und doch unmissverständlich weist Gauck die Bundesrepublik darauf hin, dass sich ihre Beurteilung der Weltlage, ihr Selbstverständnis und ihr Beitrag zur Lösung der sich herauskristallisierten Bedrohungsszenarien nicht auf der Höhe der Zeit befindet. Trotz überdurchschnittlicher ökonomischer Globalisierung gibt Deutschland keine Antwort darauf, dass einige Weltmächte sich nicht an die regelbasierte Weltordnung halten. Hingenommen werde, dass die einzige noch verbliebene Supermacht ihr Engagement in Europa überdenkt, aber Europa leitet keine ernstzunehmenden Maßnahmen einleitet, sicherheitspolitisch mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. An der NATO halte Deutschland fest, aber „ihrer finanziellen Auszehrung“ wird nichts entgegengesetzt, und die Schwierigkeiten der Vereinten Nationen, Konflikte beizulegen und die globalen Akteure in ihr Regelsystem einzubinden, bleiben ungelöst. Trotz vielfältigen Engagements fehle Deutschland die Entschlossenheit, mehr zu tun „für jene Sicherheit, die ihr von anderen seit Jahrzehnten gewährt wurde“. Mehr Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet mehr Mitverantwortung. Dazu gehört auch eine angemessene Verteidigungsfähigkeit bereitzustellen. „Politiker müssen immer verantworten, was sie tun. Sie müssen aber auch die Folgen dessen tragen, was sie unterlassen.“ Und dass Deutschland viel unterlässt, daran zweifelt Joachim Gauck nicht.
Sein Hinweis, dass überhaupt nur „eine Handvoll Lehrstühle für die Analyse deutscher Außenpolitik“ zuständig ist, bekommt Aktualität angesichts der gegenwärtigen Hilflosigkeit im öffentlichen Diskurs, strategische Ziele und taktische Schritte zu erörtern, abzuwägen und etwas komplexer zu argumentieren, als sich an der „Panzerfrage“ wichtigtuerisch zu positionieren.
Ohne den Begriff Zeitenwende zu gebrauchen, forderte Gauck von den Deutschen Bündnisverantwortung gleichberechtigt zu übernehmen und sich weder auf eine Sonderrolle mit einem „Recht auf Wegsehen“ (Heinrich August Winkler) zu berufen noch sich durch ein letztlich bequemes Selbstmisstrauen zurückzuhalten. „Nur wer sich selbst vertraut, gewinnt die Kraft, sich der Welt zuzuwenden.“ Und nur der sei für seine Partner verlässlich.
Der damalige Bundespräsident hielt eine kunstvolle Rede voller Lob und behutsamen Tadels, seine Autorität war die des Wortes, nicht die des mit politischer Handlungsmacht ausgestatteten Amtes. Sein Publikum aus dem In- und Ausland verstand seine Botschaft und die Rede der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zielte auf der Konferenz in die gleiche Richtung. In außen- und sicherheitspolitischen Kreisen der EU und der NATO, die bereits das russische Bedrohungsszenario deutlich wahrnahmen, atmete man erleichtert auf: Der „Münchner Konsens“ war geboren, voller Hoffnung auf eine Kehrtwende in der Landes- und Bündnisverteidigung. Der Verteidigungsministerin gelang 2016 dazu ein Programm, um wenigstens den weiteren Personalabbau in der Bundeswehr zu stoppen. Dann wechselte das Kabinett: Olaf Scholz wurde Finanzminister. Der Münchner Konsens platzte und in der Bündnispolitik stagnierte Deutschland. Nun müssen Deutschland, sein Kanzler und die europäischen und internationalen Bündnispartner wieder an dem damals erzielten Geist ansetzen und ihn weiterentwickeln. „Mehr Verantwortung“ hieß damals die Losung – von Max Weber zu lernen, heißt auch, zu bedenken, wer zu lange zögert, lässt zu, dass Gegenmächte siegen.
Bender, Christiane (2023) Zeitenwende – Zeit der Verantwortung, Die Regierungserklärung eines Kanzlers, der Vortrag eines soziologischen Klassikers und die Eröffnungsrede eines Bundespräsidenten, https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/520279/zeitenwende-zeit-der-verantwortung/
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