Aktuell

„Der Preis der Zeitenwende“

Leserbrief zu „Der Preis der Zeitenwende“ (FAZ vom 28. 02. 2024, S. N 4)

Nach langer Zeit hat die Bundewehr einen charismatischen Verteidigungsminister, der die Aufgaben der Bündnis- und Landeverteidigung ins Zentrum seiner Amtsführung stellt. In seinen Reden überzeugt er durch beschönigungsfreie Realitätsbeschreibungen. Das sind wesentliche Voraussetzungen, um die Studierenden an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg zu begeistern und deren Sinnkrise, wie ich sie in 18 Dienstjahren (2001-2019) erlebte, zu überwinden. Zweifellos ist die Herausforderung groß, innerhalb einer überwölbenden und teilweise selbstbezüglich funktionierenden Bürokratie die Studiengänge für Offiziere nach dem universitären Maßstab der Freiheit von Forschung und Lehre auszurichten. Aber wenn der ideologische Mehltau verschwunden ist, der auf der Bundeswehr und vielen ihrer Einrichtungen lastete – das ist auch eine Generationsfrage -, dann setzt sich ein neues Selbstverständnis durch, das die Beschäftigung mit Krieg und Krisen, Wehrfähigkeit und Sicherheit für geboten anerkennt und darin nicht empört einen Beweis für die Militarisierung der Gesellschaft sieht. „„Der Preis der Zeitenwende““ weiterlesen

„Raus aus der Blase, ran an die Basis“

Expertin kritisiert die Politik: „Im Bundestag fehlen Pragmatiker“
Von: Clemens Dörrenberg

Der Bundestag agiert abgehoben und fern der Lebensrealität, kritisiert die Soziologin Christiane Bender – und hat eine Idee, wie es besser gehen könnte.

Im Deutschen Bundestag sitzen 20 Abgeordnete mit Hauptschulabschluss. Dagegen leben in der Bundesrepublik mehr als 20 Millionen Menschen, die ebenfalls über einen Hauptschulabschluss verfügen. Das sind quasi ein Drittel der Wahlberechtigten. Die Soziologin Christiane Bender spricht im Interview über dieses Ungleichgewicht in Deutschlands höchstem Parlament, über eine verlorengegangene Verankerung der Politik in der Gesellschaft und damit verbundene Gefahren für die Demokratie. Einen Vorschlag, um dieses Problem zu beheben, hat sie auch. „“ weiterlesen

„Ständig lückenhafte Vertretung“

Deutscher Bundestg Plenum
Foto: CC BY-SA 3.0, A. Delesse (Prométhée)

Der Artikel von Clemens Dörrenberg „Ständig lückenhafte Vertretung“ ist in der taz am 14.07. 2023 (Jahrestag der Französischen Revolution) erschienen. Der Hinweis, den ich seit vielen Jahren gebe, dass die Parteien ihren Kontakt mit den Menschen an der Basis unserer Gesellschaft verlieren, wird hier an der Repräsentations-Lücke in Bundestag diskutiert und von mir kommentiert.

Lesen Sie hier den ganzen Artikel ls PDF.

Zu „Weiblich, fünfzig, unsichtbar“

Leserbrief zum Artikel von Melanie Mühl (FAZ v. 23.03.2023)

Helen Mirren
Helen Mirren (DCI Jane Tennsion in Prime Suspect): weiblich, 77, sichtbar

Der Beitrag „Weiblich, fünfzig, unsichtbar“ (FAZ, 23.03.2023) der geschätzten Melanie Mühl erscheint mir „aus der Zeit gefallen“ zu sein.

1. Frau Mühl reproduziert darin das Vorurteil, die Sicht der Frauen auf die Ästhetik ihres Körpers sei durch den Blick des Mannes bestimmt. Jungen und älteren Frauen wird abgesprochen, ein (ur)eigenes Interesse an ihrer Schönheit, Ästhetik und Mode zu haben.

2. Die Autorin reproduziert außerdem das Vorurteil, dass die ästhetische Selbstdarstellung junger Frauen in den Medien, in der Mode und gelegentlich mit Hilfe der plastischen Chirurgie keinen selbstbestimmten Willen zum Ausdruck bringe. Auf kommunaler Ebene, so gebe ich zu Bedenken, gehen wir vielerorts davon aus, dass Jugendliche ab 16 Jahren auf dem Stimmzettel bei Wahlen ihren authentischen politischen Willen ausdrücken, aber beispielsweise der Wunsch von jungen Frauen, die Couperose auf ihren Wangen lasern zu lassen, sollte als fremdbestimmt angesehen werden?! Das überzeugt nicht.

„Zu „Weiblich, fünfzig, unsichtbar““ weiterlesen

Zeitenwende – Zeit der Verantwortung

Olaf Scholz
Olaf Scholz
Max Weber
Max Weber
Joachim Gauck
Joachim Gauck
Die Regierungserklärung eines Kanzlers, der Vortrag eines soziologischen Klassikers und die Eröffnungsrede eines Bundespräsidenten

Siehe auch die erweiterte Deutschlandarchiv-Fassung dieser Arbeit bei der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb).


Siehe auch den Artikel und Podcast mit Prof. Christiane Bender im Hamburger Abendblatt vom 28. Februar 2023 mit Podcast


Am 27. Februar jährte sich die Regierungserklärung, die der deutsche Bundeskanzler drei Tage nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine abgab. Sie wurde im In- und Ausland bejubelt. In schwieriger Zeit fand Olaf Scholz klare Worte der Analyse und Verurteilung. Sichtlich erschüttert beschrieb er die verheerende Lage der ukrainischen Bevölkerung und die Konsequenzen für die Gefährdung, ja Zerstörung der europäischen Friedensordnung. Der Kanzler erkannte, allein mit den bisherigen Mitteln der deutschen Politik, mit Verhandlungen und Sanktionen, kann man den Vormarsch nicht aufhalten. Er kündigte daher eine Zeitenwende der Regierungspolitik an. Dazu zählen: die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen, die Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik neu auszurichten, Sanktionen zusammen mit der EU gegen Russland zu verhängen und ein zusätzliches Sondervermögen für die nachholende Ausrüstung der Bundeswehr bereitzustellen, damit sie den zentralen Aufgaben der Landes- und Bündnisverteidigung künftig gewachsen ist. „Zeitenwende – Zeit der Verantwortung“ weiterlesen

Zeitenwende – auch ein Ende tradierter Geschlechterstereotypen?

Vom 16.–18. November fand die Tagung „Militär hat kein Geschlecht, der Krieg schon“ am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam statt, die Stadt, in der Marie Christiane Eleonore Prochaska (* 11. März 1785 in Potsdam; † 5. Oktober 1813 in Dannenberg) geboren wurde.

Eleonore Prochaska

Eleonore Prohaska:
* 11. März 1785 (Potsdam), † 5. Okt. 1813 (Dannenberg). 1813 schloss sie sich unter dem Namen August Renz als freiwilliger Jäger zu Fuß dem Lützow’schen Freikorps an. In der Schlacht an der Göhrde, wo Preußen und Russen über die Franzosen siegten, wurde sie am 16. Sept. 1813 tödlich verwundet. Ihr kriegerischer Einsatz wurde von Pichler, Förster und Rückert in Gedichten besungen und mehrfach, u.a. von Friedrich Duncker dramatisch verarbeitet wozu Ludwig van Beethoven 1815 die Schauspielmusik schrieb (WoO 96). [mehr]

Christiane Bender hielt den Vortrag: „Zeitenwende – auch tradierte Geschlechterstereotypen am Ende?“

Exposé des Vortrags

Der Bundeskanzler schlug in seiner Rede, drei Tage nach dem völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine, eine sicherheitspolitische Zeitenwende ein. Er machte deutlich, dass die nachholende Ausrüstung der Bundewehr, die Waffenlieferung in das Kriegsgebiet und die Einhaltung der Bündnisverpflichtungen im Interesse Deutschlands sind. Dieses offizielle Umdenken wird von einer breiten Zustimmung in der Bevölkerung getragen, nicht zuletzt aufgrund der in öffentlichen Debatten eingebrachten Expertise des weiblichen Personals aus Medienanstalten, Think Tanks und Stiftungen. Die Zeitenwende gelingt jedoch nur nachhaltig, wenn künftig die gesellschaftliche Verantwortung für Schutz und Sicherheit nicht bei einer „männlich dominierten militärischen Kaste“ liegt, sondern jenseits geschlechtsspezifischer Zuordnungen in der Mitte der Gesellschaft und aus ihr heraus wahrgenommen wird. Frauen haben bereits in der Ausübung der ihnen traditionell zugeschriebenen Fähigkeiten (Kommunizieren, Therapieren Erziehen, Betreuen etc.) in den sozialen Diensten des Wohlfahrtstaats einen immensen (indirekten) Anteil, Gewalt einzuhegen. Im Angesicht gegenwärtiger Bedrohungslagen werden sie dringend auch in den Zentren von Männerdomänen (Polizei, Bundeswehr) gebraucht, wo die Gewaltmittel zum Schutz und zur Sicherung des Friedens bereitgestellt werden. Erfahrungen von Israel und Schweden geben dazu Anregungen.

Thesenpapier

  1. Die Politik der Zeitenwende, in deren Zentrum die Stärkung der militärischen Fähigkeiten zur Verteidigung von Frieden und Freiheit steht, braucht Frauen und Männer aus der Mitte der Gesellschaft, zum Diskurs in der Gesellschaft, zur politischen Unterstützung, in der Bundeswehr.
  2. Dienste, ob sie nun in der Bundeswehr oder in sozialen Einrichtungen (Sozialstaat, zivilgesellschaftlich) erbracht werden, sind für unsere Gesellschaft unverzichtbar, sie sind sozialmoralisch als gleichwertig anzukennen; wer sie ausübt, übernimmt große Verantwortung.
  3. Zeitenwende heißt, tradierte Geschlechterstereotypen (Frauen erhalten Frieden, Männer gefährden ihn) in Köpfen und in der Realität zu überwinden
  4. Deutschland ist seit der Wiedervereinigung ein weltweit anerkannter souveräner Staat. Zum Staat gehört es, das Monopol über die Gewaltmittel auszuüben. Sie sind im Rechtsstaat in die zweckgebundenen Organe zur Ausübung der inneren (u. a. Polizei) und äußeren Sicherheit (Bundeswehr, im Kern der Landes- und Bündnisverteidigung) transformiert. Militarisierung war früher! Die Bundeswehr als Parlamentsarmee ist zutiefst eingebunden in die rechtsstaatlich verankerte Demokratie. Militarisierung findet umso weniger statt, je mehr die diverse Mitte und gesellschaftliche Basis in den Organisationen vertreten sind.

Frauen haben in den letzten Jahrzehnten in nahezu unvergleichlicher Weise tradierte Verhaltensmuster verändert und Neuland erobert. Vom ehemaligen „katholischen Mädchen vom Land“ (Anfang 60er) fahren sie nun auf der schulischen Überholspur, sie holen am Arbeitsmarkt auf, sind vor allem im Bereich sozialer Dienstleistungen vertreten und übernehmen Verantwortung in Familie und Beruf. Sie werden dringend in Polizei und Bundeswehr gebraucht für deren Verankerung in der Mitte und Basis der Gesellschaft.


Literatur:

Christiane Bender, Kapitänleutnant – ein Frauenberuf? Interview 2016, veröffentlicht auf: https://christianebender.eu/wp-content/uploads/2022/09/Potsdam-2022-Interview-Kapitaenleutnant2.pdf

Christiane Bender (2015): Geschlechterdifferenz und Partnerschaft in der Bundeswehr, S. 357-377, in: Bohrmann, Thomas/Lather, Karl-Heinz/ Lohmann, Friedrich (Hrsg.): Handbuch Militärische Berufsethik. Band 2, Wiesbaden, VS Verlag

Christiane Bender (2005): Geschlechterstereotypen und Militär im Wandel. Symbolische und institutionelle Aspekte der Integration von Frauen in die Bundeswehr, S. 45-61 in: Ahrens, Jens-Rainer/Apelt, Maja/Bender, Christiane (Hg.): Frauen im Militär. Empirische Befunde und Perspektiven zur Integration von Frauen in die Streitkräfte, Wiesbaden, VS Verlag


Schauen Sie sich dazu auch meine Präsentation (2018):
„Frauen in der Bundeswehr“ an.

Föderalismus und Subsidiarität

Christiane Bender / Hans Graßl (2022), Frühe Wurzeln des föderalen Verfassungsstaats, in: Deutschland Archiv, 7.6.2022, Link: www.bpb.de/508786

Emder SynodeOtto Waalkes; Foto: Harald Bischoff

Friedrich Hölderlin hat mit dem „Nabel dieser Erde“ Frankfurt, nicht Emden gemeint. Im Beitrag von Bender/Graßl wird jedoch auf eine weitgespannte Wirkungsgeschichte Emdens hingewiesen, die eine ähnliche Bezeichnung für die ostfriesische Stadt rechtfertigt. In der Frühen Neuzeit wird sie „Genf des Nordens“ genannt. Emden ist damals ein Zentrum des innerprotestantischen Dialogs; es nimmt die verfolgten Anhänger Calvins aus Frankreich und den Niederlanden auf; 1571 findet die Emder Synode statt, in der die Abgeordneten eine Kirchenordnung nach den Prinzipien der Subsidiarität zum Schutz von Selbstverantwortung und Selbstständigkeit ihrer im Untergrund existierenden Gemeinden beschließen; wenig später betätigt sich im Stadtrat der Staats- und Rechtstheoretiker Johannes Althusius und überarbeitet seine „Politica“, ein Klassiker des Föderalismus bis heute.

Bender/Graßl skizzieren davon ausgehend Einflüsse auf die amerikanische Verfassungsgeschichte und über die ambivalente preußische Linie auf das Wilhelminische Kaiserreich. In der deutschen Nachkriegsgeschichte, insbesondere in der Ausarbeitung des Grundgesetzes, zeigen die Autoren, dass Subsidiarität und Föderalismus als zentrale Ideen für die Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaat betrachtet werden, um eine freiheitliche Gesellschaft zu entwickeln und Totalitarismus zu verhindern. Die Wiedervereinigung kommt auf föderalem Weg zustande, als Beitritt der „neuen Länder“ zur Bundesrepublik. Auch die Europäische Union wird als föderales und subsidiäres Projekt gegründet. In dieser Wirkungsgeschichte Emdens, vermittelt über viele Verzweigungen, geht es um die Bewahrung der Rechte auf Selbstbestimmung und Selbstverantwortung von kleineren Gemeinschaften gegenüber der Fremdherrschaft durch Anmaßung übergreifender Organisationsmacht.

Zu Emden, das mit der wunderbaren Johannes a Lasco-Bibliothek seine protestantisch-obrigkeitskritische Tradition pflegt, passt ein widerspenstig-rebellischer Typ wie der Komiker Otto. Da schließt sich der Zusammenhang zu Frankfurt, haben doch die Humoristen der zweiten Frankfurter Schule fleißig für den Ehrenbürger Emdens viele Witze geschrieben.

Im Folgenden finden Sie den Text von Bender/Graßl als PDF:

»Frühe Wurzeln des föderalen Verfassungsstaats – Die Emder Synode von 1571 und der Geist des reformierten Protestantismus«

Impulse auf dem umkämpften Weg der Staatenbildung in Europa zu einer föderal-subsidiären Gewaltenteilung im wiedervereinten Deutschland«

Eine Meisterleistung!

4./5./6. Juni: „70 Jahre. Hamburg feiert sein Grundgesetz. Die Landesverfassung der Hansestadt hat am Montag Geburtstag. Ein Magazin würdigt es“ – Leserbrief an das Hamburger Abendblatt

Historisch betrachtet ist es missverständlich, den Begriff Grundgesetz auf eine Länderverfassung anzuwenden. Max Brauer, Bürgermeister auf der Grundlage der „vorläufigen Verfassung der Hansestadt Hamburg“ (1946), schlug ihn als eine pragmatisch-kreative Kompromissformel im Juli 1948 vor. Sie entsprach zugleich dem Drängen der West-Alliierten auf Ausarbeitung einer Länder übergreifenden Rechtsordnung und dem Bedenken der Länderchefs, mit einer Verfassung die drohende Spaltung Deutschland voranzutreiben. Zwischen August 1948 und Mai 1949 wurde daher das Grundgesetz zunächst als vorläufiger Verfassungstext auf Herrenchiemsee vorbereitet und dann im Parlamentarischen Rat, der aus 65 von elf Länderparlamenten gewählten Abgeordneten bestand, ausgearbeitet und verabschiedet. Eine Meisterleistung! Das Grundgesetz erschien schon bald den Deutschen nicht mehr als Provisorium, sondern als ausformulierter Inbegriff ihrer gemeinsamen Identität, auch nach der Wiedervereinigung. Aus Hamburg waren Paul de Chapeaurouge (CDU) und der Bürgerschaftspräsident Adolf Schönfelder (SPD), Alters- und Vizepräsident im Rat, beteiligt. Nehmen diese Vorgänge und die verantwortlichen Akteure in der Hamburger Erinnerungskultur den ihnen gebührenden Platz ein? Nein! Ein „Platz des Grundgesetzes“ in der City könnte diese Lücke schließen.