Bildung und Freiheit. Grundsätzliches zur Ideengeschichte des Bildungsbegriffs und Anmerkungen zur Ausbildung von Offizieren an der Helmut-Schmidt-Universität (HSU)

Forschung & Lehre 2/2021CHRISTIANE BENDER (2022): Bildung und Freiheit. Grundsätzliches zur Ideengeschichte des Bildungsbegriffs und Anmerkungen zur Ausbildung von Offizieren an der Helmut-Schmidt-Universität (HSU), in: Charakter – Haltung – Habitus, S. 291–317;
Part of the Militär und Sozialwissenschaften/The Military and Social Research book series (MSR,volume 55)

Zusammenfassung

Aus der Einführung zum Buch: Christiane Bender setzt sich – auch angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen durch die Corona-Pandemie – grundsätzlich mit der Frage nach Autorität und Führung auseinander. Vor dem Hintergrund preußischer und philosophischer Bildungstraditionen (Kant, Hegel) und durch Max Weber geschult, schaut sie auf den Wunsch breiter Kreise nach Ordnung und zieht Konsequenzen für die akademische Ausbildung von Offizieren der Bundeswehr.

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Notes

  1. Was kann ich erkennen? Wie soll ich handeln? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Diese vier Fragen, die Kant methodisch völlig unterschiedlich beantwortet, gehören heutzutage zur Allgemeinbildung und damit auch zum kulturellen Grundwissen von Führungskräften.
  2. Kant [1784] (1999): 20–27, hier 20. Im Folgenden skizziere ich diesen Aspekt der Kantischen Philosophie, der sich als folgenreich für das Verständnis von Mündigkeit und Freiheit durch Bildung erwiesen hat.
  3. Zum Folgenden: Kant [1785] (1974); Höffe (1996).
  4. Kant verfügt über keine Theorie institutionalisierter Bildung, sodass er zwar prinzipiell die Fähigkeiten zur Selbstaufklärung unterstellt, aber letztlich bleibt bei ihm zeitbedingt unbeantwortet, wie jeder Einzelne tatsächlich diese Fähigkeit entwickeln kann. Erst mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht bekommt Kants Annahme zusätzliche Plausibilität.
  5. Philosophisch wurden die systematischen Probleme, die Kant hinterlassen hatte, durch Fichte, Hegel und Schelling bearbeitet.
  6. Bei Hegel gibt es keine besondere Bildungstheorie. Es folgen alle geistigen Prozesse einer Bildungsbewegung. Damit allerdings erweist sich der Hegelsche Bildungsbegriff anschlussfähig an die berühmten Forschungen zur kognitiven Entwicklung von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg sowie an die sozialwissenschaftliche Sozialisationsforschung.
  7. Zum Folgenden Hegel [1807] (1970a); Hegel [1821] (1970b); außerdem Bender (2019).
  8. Es ist in der Entwicklungspsychologie vielfach gezeigt worden, dass das Selbstbewusstsein von Heranwachsenden zunächst durch deren Spiegelung im Verhalten, vor allem in der Ansprache von Erwachsenen, zustande kommt. Ein Beispiel ist der Vorgang, den eigenen Namen (von den Eltern immer wieder) zu hören und ihn schließlich als Selbstbezeichnung zu erkennen und zu verinnerlichen. Verallgemeinert: Menschen sind diejenigen, die sie glauben zu sein, zunächst durch die Zuweisung der Identität durch Andere. Daher sind die Sichtweisen von Erwachsenen für Heranwachsende, von Lehrenden für Lernende, von Vorgesetzten für Auszubildende über eine lange Sozialisation von großer Bedeutung, auch wenn unter bestimmten historischen Konstellationen der Ablösungsprozess der Heranwachsenden mit Aggressionen seitens der Jüngeren gegen die Älteren verbunden ist. Auf einer allgemeinen Ebene hat Hegel die Bildung von Identität als Selbstbewusstsein beschrieben.
  9. Zeitgleich, als im Oktober 1806 Hegel diese Gedanken gerade zu Papier gebracht hatte, ritt Napoleon mit seinen Truppen durch Jena. Sein Manuskript rettete er durch Flucht. Für Hegel eine schmerzhafte Erfahrung!
  10. Zur Bewältigung der Niederlage gegen Napoleon in Preußen gehören die bereits erwähnten Maßnahmen: Einführung eines dreigliedrigen Schulsystems und Heeresreform: Anhebung des sozialen Status von Soldaten, Öffnung der Offizierslaufbahn für bürgerliche Kreise, Einführung der Wehrpflicht.
  11. Zunächst reformierten die USA nach dem Schock, den die Sowjetunion mit der Entsendung des ersten Satelliten in das Weltall (1957) ausgelöst hatte, ihr Bildungssystem. Dazu gehörten folgende Initiativen: Förderung bisher bildungsferner Schichten, Maßnahmen der Frühpädagogik (Vorschulen), Lehrplanänderung (zugunsten naturwissenschaftlicher Fächer), Vernetzung von Bildungseinrichtungen, Einführung der Schulbusse. Zehn Jahre später begegnete die Bundesrepublik der »Bildungskatastrophe« (Georg Picht) durch eine Bildungsexpansion: Die sekundären und tertiären Bildungseinrichtungen wurden ausgebaut und gezielt bildungsferne Jugendliche, wie das »katholische Mädchen vom Lande«, gefördert. In den 1970er-Jahren wurden die beiden Bundeswehrhochschulen gegründet.
  12. Die PISA-Studien untersuchten international den Leistungsstand von Schülern. Deutsche Schüler belegten in den internationalen Kompetenz-Rankings zumeist nur ein unteres Mittelfeld. Dadurch wurde die deutsche Bildungsdebatte entfacht mit der Konsequenz, die Abiturientenquote zu erhöhen, die Vorschulen auszubauen, die Studentenquoten zu steigern. Als unbeabsichtigte Nebenfolge verlor das duale Berufsausbildungssystem an Prestige.
  13. Zu berücksichtigen ist: Nach dem Aussetzen der Wehrpflicht kommt einer attraktiven und allgemein anerkannten universitären Ausbildung für Offiziere auf Zeit, die mit guten Optionen auf den zivilen Arbeitsmarkt zurückkehren, noch mehr Bedeutung zu.
  14. Die neuen Medien sind nicht das eigentliche Problem, sondern höchstens ein Beschleuniger der Probleme. Die Probleme hängen mit der Aufgabenüberlastung des Bildungssystems in Deutschland zusammen, möglicherweise auch mit den praktizierten Lehr- und Lernstilen.
  15. Die Exzellenz-Universitäten führen Eingangsgespräche bei der Aufnahme von Studierenden durch. Auch Unternehmen messen bei Personaleinstellungen den Abiturzeugnissen immer weniger Bedeutung bei. »Überall an den Hochschulen wird schon seit Jahrzehnten immer mehr Schulstoff der Klassen 8 bis 13 nachgeholt«, schreibt Jürgen Kaube, FAZ-Herausgeber, Soziologe und Ökonom sowie Vater von zwei Töchtern, in seiner Glosse »Warum Abitur?« (Kaube 2020).
  16. Unterhält man sich mit Beratern von Führungskräften, so weisen sie auf die Wichtigkeit der Selbsteinschätzung von Führungskräften hin. Vor allem Führungskräfte, die sich überschätzen, gefährden den Organisationserfolg und geben sich der Lächerlichkeit in ihrem Team preis. Führungskräfte, die sich unterschätzen, haben Schwierigkeiten, auf Einhaltung von Vorgaben zu bestehen. Selbstüberschätzung wie -unterschätzung von Führungskräften bringen Organisationen in Schwierigkeiten.
  17. Heike Schmoll fasst in ihrem Artikel »Hohe Belastung für Lehrer« die Ergebnisse einer Studie des Deutschen Philologenverbands zusammen: »Der Lehrerberuf ist in den vergangenen Jahren auch am Gymnasium mit noch größeren Belastungen verbunden. Zwar ist es nicht ungewöhnlich, dass das wöchentliche Stundenpensum von Lehrern 45 h übersteigt, doch die Heterogenität der Klassen hat auch am Gymnasium erheblich zugenommen. Das stresst Lehrer nach eigenem Bekunden zusätzlich. 95 % der Lehrer empfinden die Leistungsunterschiede unter den Schülern als Hauptproblem. An zweiter Stelle stehen der Lärmpegel und verhaltensauffällige Schüler im Unterricht« (Schmoll 2006).
  18. Allerdings gibt es nach wie vor noch Schulen mit recht homogenen Schülermilieus, vor allem in den privaten Schulen und stadtteilspezifisch. Jedes zehnte Kind besucht heutzutage eine Privatschule, Tendenz eher steigend, vor allem in Ostdeutschland. Klemm et al. (2018) stellen geringe Unterschiede zum öffentlichen Bildungssystem fest, jedoch im Bereich »Zuhören« (Deutsch) und »Hörverstehen« (Englisch) erzielen die Schüler privater Einrichtungen bessere Leistungsergebnisse.
  19. Ein Grund der mangelnden Aufmerksamkeit für das Verhalten von Schülern und Studenten seitens der Lehrkräfte ist die in Deutschland vorgenommene scharfe Trennung zwischen Erziehung und Bildung, die zwar seit Jahrzehnten in Kindertagesstätten vor allem von engagierten Eltern nicht mehr akzeptiert wird, aber an Schulen und Universitäten zu der Grundüberzeugung des Personals vor Ort gehört. Der »reine« Bildungsauftrag, so lautet die verbreitete Meinung, schließe aus, auf die habituellen Dispositionen von Schüler und Studenten Einfluss zu nehmen. Im privaten Bildungsbereich wird das anders gesehen. Die Betreiber kennen die Interessen der Eltern (ihrer Kunden), die Kinder und Jugendlichen frühzeitig an Verhaltensweisen zu gewöhnen, die ihnen später Anerkennung und Zutrauen einbringen, Führungsaufgaben zu übernehmen. Ob diese unter dem Etikett Erziehung oder Bildung vermittelt wurden, spielt dabei keine Rolle, zumal sich dieser Unterschied auf Englisch nicht wiedergeben lässt.
  20. Die Digitalisierung des weltweiten Wissens ermöglicht – im Idealfall – dessen Zugänge für jeden Interessierten, an jedem Ort und zu jeder Zeit. Nichtwissen wird immer peinlicher! Der militärische und der akademische Habitus bekommen immer mehr gemeinsame Verhaltensmuster.
  21. Hier liegt m. E. auch ein Schlüssel zum Diskriminierungsproblem von ethnischen Minderheiten: Im öffentlichen Diskurs wird vielfach die Ablehnung aufgrund von »Einstellungen« unterstellt. Aus langjährigen Erfahrungen an mehreren Universitäten weiß ich, dass in Seminaren und Vorlesungen zumeist jeder (unabhängig von ethnischer Herkunft und Aussehen), der etwas beizutragen hat und sich eines akademischen Kommunikationsstils bedient, aufmerksam Gehör findet. Die Beherrschung von kontextspezifischen Verhaltensmustern, dazu die Regeln der Höflichkeit und des Respekts – insgesamt also Verhaltensweisen, die Zugehörigkeit vermitteln – erweisen sich als unwiderstehliche kommunikative Türöffner.
  22. Die vielzitierten Peergroups spielen vor allem bei Jungen eine immer geringere Rolle, seit diese sich aufgrund ihrer Technikaffinität vorwiegend im Netz treffen. Die zunehmende Heterogenität der Gesellschaft wirkt sich nicht überall gleichermaßen aus: Einige kommen damit nicht zurecht, andere sehen darin eine große Chance, schon früh vielfältige Erfahrungen zu machen. Andere wiederum erleben Heterogenität als hohes Armutsrisiko – insgesamt also wird Heterogenität schichtspezifisch gebrochen erlebt mit großen Auswirkungen auf die Motivation zu lernen: In den »Internationalen Schulen« oder in den privilegierten Stadtteilen (in Hamburg: Blankenese und Volksdorf) lernen sich frühzeitig Diplomatenkinder aus vielen Ländern kennen, in den Schulen der sozialen Brennpunkte (in Hamburg: Mümmelmannsberg und Jenfeld) teilen viele Schüler das Schicksal von Kindern prekär lebender Eltern unterschiedlicher ethnischer Herkunft.
  23. Seitenwechsel von der Basis in die Spitze (und zurück) sollte in einer Demokratie nicht illusionär werden. Die uralte Idee der Demokratie besagt, dass Bürger die Seite wechseln, dass sie nicht nur zur Seite der Bevölkerung gehören, die – wenn auch legitimerweise – beherrscht wird, sondern dass reelle Chancen bestehen, dass auch sie an der Herrschaft teilhaben können. Wird die Hoffnung enttäuscht, aufgrund von erworbenen Bildungsabschlüssen sozial aufzusteigen, ist die Gefahr groß, dass sich Frustrierte von den unsere Gesellschaft tragenden habituellen Mustern und den damit verbundenen Orientierungen ausklinken und sich einem autoritären Gegenentwurf zuwenden.
  24. Guttenberg ist nach der Bestätigung des Plagiatsverdachts seiner Doktorarbeit in den USA ein Neustart geglückt, die Ehre seines Doktorvaters, eines bis dato renommierten und verehrten Rechtswissenschaftlers, wurde dauerhaft beschädigt.
  25. Was die Generation, die gegenwärtig ausgebildet wird, nicht an Fähigkeiten erwirbt und an Impulsen für ihr Leben mitnimmt, kann sie auch nicht an die künftigen Generationen weitergeben.