24.04–04.05.2022: New Political Order – Radical Change or Transformation?

Course:
Social Philosophy (Profs. Vujadinovic, Brunkhorst, Rassmussen, Raulet)
Location: IUC Dubrovnik

Solidarität mit der Ukraine


Christiane Bender:
Turning Point: Lifelong Illusions are coming to an end (Auszug aus der deutschen Fassung des Vortragsmanuskripts; die vollständige Arbeit erscheint im Jahrbuch Politisches Denken 2022, ca. Anfang 2023)

1.The Invasion

Der Präsident der Russischen Föderation Wladimir (übersetzt: groß in seiner Macht) Putin befahl am 24. 02. 2022 seinen Truppen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Eines der wichtigsten Dokumente des Völkerrechts, die Charta der United Nation, verbietet die Androhung und Anwendung von Gewalt zwischen Staaten.[1] Die Ukraine ist ein souveräner Staat, deren territoriale Unversehrtheit und politische Integrität in mehreren Verträgen ausdrücklich bestätigte wurde.[2]

Die Konzentration der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze wurde über viele Monate weltweit mit Sorge beobachtet, in Deutschland dennoch zumeist lediglich als Drohgebärde (Beispiel: ehem. NATO-General Kujat) verharmlost. Putin beruhigte die sensiblen Gemüter und sprach bis kurz vor der Invasion von Manöver, die demnächst beendet würden und vom Truppenrückzug. Gleichzeitig forderte er unmissverständlich, dass die sogenannte Osterweiterung der NATO rückgängig zu machen ist und die ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts wieder zur russischen Einflusszone gehören werden. Das bedeutete, die Souveränität dieser Staaten, ihr Selbstbestimmungsrecht in Bündnisfragen, würde aufgegeben.


Lesen Sie den Auszug hier gern als PDF.


Auf der 58. Sicherheitskonferenz in München vom 18. bis zum 20. Februar 2022, einem Zentrum der internationalen Diplomatie, ließen sich weder Putin noch Lawrow blicken. Dort hatte Putin 2007 seine berühmte Brandrede gegen die Ausdehnung des Einflusses der USA in Europa und auf die ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts gehalten. Damit knüpfte er an die Botschaft seiner bejubelten Rede von 2001 im Deutschen Bundestag an. Nun, im Angesicht einer über Monate anhaltenden Konzentration von russischen Truppen an der ukrainischen Grenze demonstrierte das Spitzenpersonal aus den europäischen Staaten (Scholz, Johnson u. a.), der EU (von der Leyen), der UN(Guterres) und der NATO (Stoltenberg) demonstrierte Zusammenhalt und Solidarität an der Seite des auf der Sicherheitskonferenz anwesenden ukrainischen Präsidenten. Russland drohte man mit Sanktionen, falls die ukrainische Grenze überschritten würde. (Ukraine heißt übersetzt so viel Grenzland.)

Schon vorher hatte Putin den chinesischen Präsidenten Xi Jinping, ein Bündnispartner, der ihm Rückhalt bot, zu den Olympischen Spielen in Peking besucht. Die mit Xi Jinping, ähnlich wie er ein Verächter der Menschenrechte, getroffene Verabredung lag spürbar in der Luft: Eine russische Invasion würde nicht vor Beendigung der Olympischen Winterspiele am 20. Februar beginnen. Aber die Vorbereitungen, von den Medien bis zu den Truppenkonzentrationen an der Grenze, liefen auf Hochtouren: Am 21. Februar wurden die von Separatisten besetzten ukrainischen Gebiete von Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten von Putin anerkannt und Beistandsabkommen mit den dortigen Satrapen abgeschlossen. In der Propagandarede am gleichen Tag erläuterte Putin im Staatsfernsehen seine Bedeutung als „Geschichtsvollzieher“ Russlands, wozu für ihn auch russische Bevölkerungen gehören. Diese Russen müssten in Staaten wie der Ukraine angeblich vor Fremdbestimmung und Misshandlung geschützt werden. Immer wieder wies er in weiteren Reden auf die historische Zusammengehörigkeit Russlands, der Ukraine und Weißrusslands hin. Am 24. Februar kündigte Putin die wenige Tage zuvor noch abgestrittene Invasion der Ukraine als „Sonderoperation“ an, angeblich ein gebotener „Akt der Selbstverteidigung Russlands“, zur „Befreiung des russischen Brudervolks“ von den herrschenden (antisemitischen) Neo-Faschisten. Die Erinnerung an den großen Vaterländischen Krieg gegen Hitlers Armeen wird in seinen Reden immer wieder beschworen. Ein großer, der russischen Bevölkerung vertrauter, historischer Zusammenhang wird konstruiert, um den brutalen Machtanspruch auf umliegende Länder zu rechtfertigen. Zur völligen Desorientierung benutzt der ehemaliger KGBler Begriffe, die in der Öffentlichkeit hoch im Kurs stehen, wie Befreiung, Verteidigung der Demokratie, Sicherheitsinteressen respektieren, Entnazifizierung, Verhinderung von Völkermord, Antifaschismus etc, um deren Gegenteil in die Praxis umzusetzen.

Das schrittweise im Vorfeld abgestimmte und eskalierende Vorgehen, die propagandistische Beschwörung des historischen Auftrags, die durchgesetzte, Sachverhalte auf den Kopf stellende Sprachregelung, die Verfolgung der von Putin-Kurs abweichenden Organisationen und Individuen aus der Zivilgesellschaft – all dieses weist auf ein von langer Hand geplantes Unternehmen hin. Zweifellos gehören dazu in der russischen Gesellschaft vorhandene Trägerschichten, vor allem im Staatsapparat, die die Kriegsführung mit vorbereitet haben und unterstützen. Die Brutalisierung des Kriegs durch das russische Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung wird von ihnen billigend in Kauf genommen.

Hinzu kommt: Die meisten westlichen Länder waren innenpolitisch von der Pandemie geschwächt und neue Regierungen in den USA und in Deutschland saßen noch nicht besonders fest im Sattel und Frankreich stand vor einer Wahl mit unbekanntem Ausgang. Militärisch lag keine Erfolgsgeschichte, sondern ein überstürzter Abzug aus Afghanistan zurück. Die USA sind zunehmend im pazifischen Raum gebunden. Der russische Präsident schätzte offensichtlich diesen Augenblick als für ihn günstig eingeschätzt.

Am 27. Februar, drei Tage nach der Invasion, drohte Putin, Atomwaffen einzusetzen, falls NATO-Staaten Truppen in die Ukraine entsenden oder den Luftraum über ihrem Territorium schützen. Das Grauen des Krieges, das Töten und Verletzen, nahm Fahrt auf. Zunehmend richten russischen Verbände ihre Aggressionen gegen die Zivilbevölkerung und deren Infrastrukturen, die die zivile Bevölkerung zum Überleben benötigt wie Wohnquartiere, Kranken- und Kaufhäuser, Bildungseinrichtungen. An Orten wie Butscha werden Gräuel des Folterns, der Vergewaltigung, des Tötens von Kindern sichtbar. Massengräber werden entdeckt. Flüchtende Frauen, Kinder, Alte und Gebrechliche werden am Bahnhof aufgehalten und getötet, humanitäre Korridore oftmals nicht oder zu spät gewährt und dann wird noch auf die Fliehenden geschossen. Im umzingelten Mariupol sterben die Einwohner, wochenlang unterversorgt, während die russischen Belagerer die Stadt für ihre eigene Versorgung plündern. Im Donbass werden täglich Anwohner verschleppt. Den Angreifern jubelt kein Brudervolk entgegen, das ukrainische Militär leistet zähen Widerstand. Der Plan, Kiew blitzkriegsartig einzunehmen und die Regierung gefangen zu nehmen, misslingt. Statt auf Gesprächsangebote und auf Waffenstillstandsforderungen der ukrainischen Regierung einzugehen, wird der Krieg weitergeführt als Zermürbungskrieg mit unzähligen Opfern und unerträglichem Leid.

  1. Dieser Krieg zerstört Fundamente, er lässt sich nicht ignorieren

Mit dem Präsidenten Wolodymir (ukrainische Form des Namens Wladimir) Selensky erhält der ukrainische Widerstand weltweit ein Gesicht. Tagtäglich richtet er Ansprachen an nationale Regierungen und Parlamente mit sehr konkreten Erwartungen an Waffenlieferungen und ökonomischen Sanktionen. Ebenso wendet er sich an die EU, die NATO und die Vereinten Nationen. Eindringlich fordert er auf, Einfuhren aus Russland, vor allem Energie, zu stoppen, um die finanzielle Basis der Rohstoff-Diktatur und ihres Krieges zu schwächen.[3] Obwohl Selensky Bereitschaft zu Gesprächen und Kompromissen zeigt, kann und will er nicht auf russische Forderungen eingehen, die die Selbstbestimmung seines Landes beseitigen.

Immer wieder betont er: Die Verteidigung der Freiheit der Ukraine ist zugleich die Verteidigung Europas und seiner Werte. Was heißt Werte? Letztlich ist damit die selbstverständliche Praxis der Bürger und Bürgerinnen gemeint, ihren alltäglichen Belangen nachzugehen, die weitgehend dem entsprechen, was sie unter einem guten Leben verstehen – geschützt von einem institutionellen Gefüge aus Demokratie, Rechts- und Wohlfahrtsstaat.[4] In Deutschland kam jedoch nur selten in Betracht, dass der russische Aggressor, der bestens hierzulande mit der politischen Klasse vernetzt ist, es seit Langem den Bevölkerungen der an Russland angrenzenden Gesellschaften schwer, ja nahezu unmöglich macht, sich selbständig zu entwickeln mit  Bevölkerungsgruppen, etwa einer breiten Land und Stadt übergreifenden Mittelschicht, die Interesse hat, freiheitliche Lebensformen auszuprobieren und dafür Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit benötigt.

Leider bringt erst die russische Invasion Deutschland – diesen notorischen Spätentwickler (Beispiele: Nationalstaat, Industrialisierung, Digitalisierung) – zur Vernunft. Immerhin: Bundeskanzler Olaf Scholz sprach im Bundestag am dritten Tag nach Kriegsbeginn von einer Zeitenwende und kündigte einen gravierenden Strategiewechsel der Politik an, vor allem der Sicherheitspolitik. Der Bundeswehr wird ein 100Milliarden-Etat zugesagt. Auf dem Höhepunkt der Entspannungspolitik war sie weltweit eine der personalstärksten, am besten ausgerüsteten Armeen. Als spezialisierte Berufsarmee fehlen nun Ausrüstung, Personal und Fähigkeiten zur Landesverteidigung.

Auch in den Bereichen der bisherigen Energie-, Wirtschafts- und Außenpolitik will der Kanzler eine Zeitenwende einleiten. Deren europäische und internationale Grundlagen, bestehend aus einem System von partnerschaftlichen Regularien mit wechselseitig einzuhaltenden Vertragsverpflichtungen sind von existenzieller Bedeutung für den ökonomischen Wohlstand einer Exportnation wie Deutschland. Gegenwärtig rutschen sie weg.

Mit Entsetzen wird nun deutlich, dass in vielen wirtschaftlichen Bereichen nicht Symmetrie mit wechselseitig zu tragenden Verantwortungen, sondern asymmetrische Abhängigkeit Deutschlands zu Russland besteht. Gegen alle ökonomischen Risiken und moralischen Bedenken, die sich aus Russlands Veränderung zu einer unkalkulierbaren Rohstoff-Diktatur ergaben, wurde in Deutschland keinerlei Exit-Optionen unternommen, sondern Jahr für Jahr die Importe aus Russland (etwa in der Steinkohle) erhöht. Unermüdlich förderte ein sozialdemokratisches Netzwerk zwischen Rostock-Hamburg-Hannover die Verflechtung mit der russischen Energie- und Rohstoffwirtschaft. Dabei wurden sogar die kommunale Energieversorgungssysteme an Russland verkauft.[5]

 

Im Folgenden beschäftige ich mich zunächst mit dem Begriff der Zeitenwende und damit mit einer Zeitdiagnose, die offensichtlich nun nicht mehr zutrifft und in ihrer Allgemeinheit nie zugetroffen hat. Diese Betrachtung führt mich zur Ukraine zurück, aus deren Perspektive die Zeitenwende vermutlich schon mindestens acht Jahre zurückliegt oder erst gar nicht bestand. Mit einer höchst zweifelhaften „passion de l´ignorance“ (Jaques Lacan) trat Deutschland für ein europäisches Sicherheitsverständnis ein, das die reale Bedrohungssituation vieler mittel- und osteuropäischen Länder nicht ausreichend berücksichtigte. Die Rolle Deutschlands in der NATO ist hierbei anzusprechen. Die daraus erwachsenen hohen Kosten bestehen nicht nur in der energiepolitischen Abhängigkeit Deutschlands, sondern in einer ungewissen Zukunft, aus der möglicherweise ein anderer kollektiver Akteur machtpolitische Vorteile, XiPing in China, für sich realisiert. Abschließend in der Diskussion könnte die moralische Verantwortung Deutschlands gegenüber der Ukraine diskutiert werden, die lange Zeit gegenüber der Konzentration auf Russland außer Acht gelassen wurde.

  1. Turining point – Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit (Hegel)?

Unter Zeitenwende wird eine tiefgreifende Zäsur der Realität und ihrer Wahrnehmung verstanden. Unvorhergesehene Ereignisse lassen Gewissheiten zweifelhaft werden, die eben noch die Basis für fraglos selbstverständliche, individuelle und kollektive Orientierungen bildeten. Deren Verallgemeinerungen stimmen nicht mehr mit dem Gegenstand, auf den sie sich beziehen, überein. Der Gegenstand erscheint fremd. Diese Erfahrung zu verarbeiten, fällt den erschütterten Zeitzeugen schwer. Aus gestrigen Gewissheiten werden vergebliche Illusionen und heutige Ungewissheiten. Sie gehörten noch eben zur eigenen Identität, die nun ebenfalls als vergangen empfunden werden muss. Damit verbundene Lebensgewohnheiten rücken immer mehr in eine in die Ferne verschwindende Vergangenheit. Eine andere, verkannte Seite von sich selbst kommt zum Vorschein. Diese zu erkennen, ist eine erneute, nicht immer gelingende Herausforderung. Die Gegenwart, zumal in Kriegszeiten, steht derweil nicht still, die Handlungsrisiken sind immens. Abbruch von Kontinuität und unsichere Neubestimmungen prägen die Zeit der Übergänge. Der Übergänge – wohin?

Hegel beschreibt solche Prozesse als schmerzhafte Selbstaufklärung des Bewusstseins und Schritte zu einer vertieften Erkenntnis, der Wahrheit. Aber in der Geschichte ziehen ereignisreiche Augenblicke großer Erschütterungen das Engagement von Generationen nach sich, um diese Erfahrungen zu verarbeiten. Und ob und wann dafür die ausreichende Zeit besteht, eine neue „Stufe“ des Bewusstseins wieder mit der Bildung einer besseren Welt in Einklang zu bringen, wissen die Zeitgenossen nicht. Denn die Zeitgenossen wissen nicht, wer im Krieg überleben wird und ob sie überhaupt dazu gehören werden. Sie ringen Zug um Zug um Zukunft, um die Klärung von Verantwortlichkeiten und beobachten Wendehälse, die ihr unehrliches Spiel weitertreiben. Derweil läuft der Kampf um die Deutung der Ereignisse und der daraus abzuleitenden Politik auf Hochtouren.

……

 

[1] „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Charta der Vereinten Nationen Artikel 1(4). Die Charta von Paris (21. 11. 1990), das Schlussdokument der KSZE-Sondergipfelkonferenz von 32 europäischen Ländern sowie USA und Kanada unterzeichnet. Es enthält ein Abkommen über das Ende des Kalten Kriegs und den Willen zur Schaffung einer neuen friedlichen Ordnung in einem Europa der „Demokratie, des Friedens und der Einheit“. Ein neues Zeitalter sollte eingeleitet werden.

[2] Ich verweise auf das Belowersche Abkommen (1991) und das Budapester Memorandum (1994) Darin verpflichten sich Russland, die USA und Großbritannien die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Länder Kasachstan, Belarus und Ukraine zu schützen als Gegenleistung für den Verzicht auf ihre Nuklearwaffen. Dabei wird auf die Schlussakte von Helsinki Bezug genommen. Übrigens die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik war eines der ersten (51) Gründungsmitglieder der UN. Mit ihr und Weißrussland verfügte die Sowjetunion über 3 Stimmen.

[3] Ökonomisch liegt die Wirtschaftskraft Russlands etwa auf dem Niveau von Spanien.

[4] Besonders attraktiv daran sind die Unterschiede in den Kulturen der Freiheit zwischen dem skandinavischen, mitteleuropäischen und südeuropäischen Lebensstil. Aber was ist mit den osteuropäischen Ländern?

[5] Deutschland ist zu 55% vom russischen Gas abhängig. Weitere hohe Abhängigkeiten bestehen bei Rohstoffen wie etwa Nickel (44%,), DRI-Eisenerze (35%), Titan (41%. Auch lagerähnliche Arbeitsbedingungen in manchen russischen Werken interessieren nicht. Selbst die Chancen, ein gewisses Maß an Handlungsoptionen offen zu halten, etwa durch gefüllte eigene Energiespeicher vor Ort, wurde aufgegeben und unter Mitwirkung des ehemaligen Bundeskanzler Schröder lokale Energiespeicher an Gazprom abgegeben und Optionen für alternative LNG-Speicher gar nicht erst geschaffen. Nun sind die Vorratsspeicher leer.


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Autor: bender

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