Christiane Benders Romandebut „Miquelallee 1979“ ist ein gelungener Rückblick auf das akademische Milieu und das Zeitgefühl der späten 1970er Jahre
Von Ulrich Breth / Besprochene Bücher / Literaturhinweise
Mit dem Band Miquelallee 1979 hat die ehemalige Hochschullehrerin Christiane Bender ihren ersten Roman vorgelegt. Als Soziologin hat sie sich bereits in essayistischer Form mit dem Wandel universitärer Bildungsprozesse auseinandergesetzt und dabei die akademische Tradition der Vorlesung als kollektive Simultanrezeption von Bildungsinhalten verteidigt.
Der Einwand, in ihrem Campus-Roman illustriere sie nun nachträglich die Position, die sie bereits in wissenschaftlicher Prosa vertreten hat, ist ebenso naheliegend wie irreführend. Eher ließe sich sagen, dass das Buch die Überzeugungen der Autorin in autofiktionaler Form flankiert und dadurch einer Bewährungsprobe aussetzt, die theoretische Gewissheiten brüchig werden lässt. Und dass sich ihr Roman als Rückblick auf die Zeitstimmung im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts verstehen lässt, in dem es einer Generation von Studenten plötzlich möglich schien, in nahezu grenzenloser akademischer Freiheit für sich neue Lebensformen zu entwickeln – auch wenn manche dieser Freiheiten inzwischen wieder eingezogen wurden und die an sie geknüpften Hoffnungen sich teilweise als Illusionen erwiesen haben.
Mit seinem Titel legt der Text eine erste Spur. Als Namensgeber der Allee steht Johannes von Miquel sowohl für seine Zeit als Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main (1880-1890) für Bürgersinn als auch für eine beängstigende politische Volatilität, die ihn von seinen Anfängen, in denen er den Kommunisten nahestand, über sein Engagement für den rechten Flügel der Nationalliberalen bis zu seiner Mitgliedschaft im Deutschen Kolonialverein führte. Die nach ihm benannte Straße strahlt eine gewisse bürgerliche grandezza aus und bringt, da sie stadtauswärts direkt zum nahegelegenen Autobahnkreuz führt, zugleich zum Ausdruck, dass Frankfurt eine internationale Drehscheibe und für manchen eher eine Durchgangsstation ist.
In dieser Allee haben sich die drei Protagonistinnen des Romans, Ulli, Mona und Bärbel, im Dachgeschoss einer noblen Villa eine studentische Wohngemeinschaft eingerichtet. Von diesem Quartier aus wollen sie – nachdem sie aus ihrem Leben als Vordertaunusehefrauen ausgebrochen sind und ihren langweiligen Ehemännern und den Kleinstadtidyllen Kronbergs und Königsteins ein zorniges Valet hinterhergerufen haben – ins studentische Milieu und urbane Nachtleben der nahegelegenen Mainmetropole eintauchen, um sich die Inspiration und den Feinschliff für ihr weiteres Leben im Zeichen eines „moderaten Matriarchats“ zu holen. Das moderate Matriarchat ist der Ausdruck für das Bündnis, das die drei im Grunde sehr unterschiedlichen jungen Frauen eingehen, um die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern zu verändern und dabei den Männern die gesellschaftliche Beute streitig zu machen, die diese stets allein für sich beanspruchen. Während die pragmatische Bärbel sich dagegen wehrt, sich auf die Rolle der starken Frau hinter einem ehrgeizigen Jungpolitiker reduzieren zu lassen, und sich einen Teilzeit-Liebhaber nimmt, bemüht sich Ulli mit wechselndem Erfolg, ihre erotischen Eroberungen mit dem pädagogischen Eros, den die Philosophie zu bieten hat, in Einklang zu bringen – währenddessen die flamboyante Mona in wechselnden weiblichen Rollenbildern von der Femme Fatale bis zur New Age Wasserfrau von einer Mesalliance in die nächste schlittert.
Der Titelzusatz „1979“ führt einen zeitlichen Index mit sich, der für die mentale Lage, in die Benders Romanfiguren eingebunden sind, bezeichnend ist. Der utopische Vorrat der 68er ist aufgebraucht; ihre Nachfolger, die Funktionäre der K-Gruppen, Spontis und freischwebenden Klassenkämpfer setzen sich gegen ihren zunehmenden Bedeutungsverlust zur Wehr. Längst haben die Technokraten die Lenkung des Staatsschiffs übernommen. Die US-Amerikaner haben das persische Schah-Regime fallen gelassen, der Ayatollah kehrt aus seinem politischen Exil in den Iran zurück, um dort seinen Gottesstaat zu errichten. All das teilt sich dem Leser in dem Maße mit, in dem es für die Biographien der Romanfiguren von Bedeutung ist. So lebt in der Villa, in der die drei Romanheldinnen wohnen, die Familie eines iranischen Bankiers, die Grund hat, sich vor den Sympathisanten des neuen iranischen Regimes zu fürchten. Da die Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren des Romans verwickelt sind und sich ständig verändern, entsteht ein multiperspektivisches Panorama auf die Stadt Frankfurt und die späten 1970er Jahre.
Trotz der Studentenrevolte in den westlichen Ländern ist es bereits 1973 mit der Aussicht auf revolutionäre Veränderungen, die das gesellschaftliche Ganze ins Wanken bringen könnten, vorbei. Außerdem sind solche Umtriebe ohnehin nicht die Sache der drei Mittelschichtstöchter Ulli, Mona und Bärbel. Allenfalls Mona kokettiert damit ein wenig, um gemeinsam mit ihren neu gewonnenen Studienfreunden ihren zweiten Ex-Ehemann zu verstören. Allerdings hat die Revolte doch zumindest den Boden dafür bereitet, dass sich im folgenden Jahrzehnt die angehende akademische Elite mit einer Mischung aus idealistischem Bildungseifer, hedonistischer Attitüde und politischem Opportunismus eine Nische schaffen konnte, in der der Traum von einer Welt reifte, die den Regeln einer universalen Verständigungsgemeinschaft folgt.
Wie Elemente dieses Traums in das Leben der Mainmetropole einsickern und das Leben ihrer Bewohner verändern, lässt sich am Beispiel des akademischen als auch des teilweise außerakademischen Milieus, in dem die Romanhandlung angesiedelt ist, präzise beobachten. In Begriffen wie dem Marsch durch die Institutionen und Sprichwörtern wie dem von den vielen kleinen Menschen, die an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, hat die Gesellschaft (die dem „Traum einer Welt, in der es anders wäre“ (Adorno), ohnehin nie getraut hat), jener Zeit, in der das, was ist, nicht alles war, ein kleines sprachliches Andenken bewahrt.